Kindeswohl
und Kindesrechte
von Jörg Maywald
Das so genannte
Kindeswohl ist vermutlich der am meisten strapazierte und zugleich am
heftigsten umstrittene Begriff, wenn es darum geht, Entscheidungen für Kinder
und mit Kindern zu treffen und zu begründen.
Was, wann und unter welchen
Umständen im wohl verstandenen Interesse eines Kindes oder Jugendlichen liegt,
darüber gehen die Meinungen bei Richtern, Anwälten, Medizinern, Psychologen,
Pädagogen, Sozialarbeitern und nicht zuletzt bei Eltern oder Elternteilen häufig
weit auseinander. Als Konstante im zumeist dissonanten Konzert der
unterschiedlichen Positionen kann allenfalls ausgemacht werden, dass die Kinder
und Jugendlichen selbst zu der Frage, was in ihrem besten Interesse liegt,
häufig nicht einmal gehört werden.
Kindeswohl: ein
unbestimmter Rechtsbegriff
Einerseits ist das Kindeswohl zu Recht die zentrale Norm und der wichtigste
Bezugspunkt im Bereich des Kindschafts- und Familienrechts. Auf den wenigen
Seiten des mit "Elterliche Sorge" überschriebenen Fünften Titels des
Vierten Buchs des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird allein
mehr als zwanzig Mal der Begriff des Kindeswohls bemüht.
Gemäß § 1666 BGB stellt
eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls die zentrale Begründungsnorm und damit
das Einfallstor dar für einen legitimen Eingriff des Staates in das
grundgesetzlich verbürgte Elternrecht.
In § 1697 a BGB wird das
Wohl des Kindes zum allgemeinen Prinzip richterlicher Entscheidungen erhoben.
Dort heißt es: "Soweit nicht anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in
Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige
Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und
Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes
am besten entspricht."
Auch im Sozialrecht ist das
Kindeswohl ganz oben angesiedelt. In § 1 Abs. 3 des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes (KJHG, SGB VIII) heißt es u.a., dass "Jugendhilfe
(...) Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen (soll)".
Andererseits steht an
keiner Stelle eines Gesetzes, was unter dem Kindeswohl eigentlich zu verstehen
ist. Handelt es sich hierbei doch um einen so genannten unbestimmten
Rechtsbegriff, der sich einer allgemeinen Definition entzieht und der daher
einer Interpretation im Einzelfall bedarf. Die Rechtsanwender – Richter und
Anwälte – sind auf außerjuristische Erkenntnisse insbesondere aus den Medizin-
und Sozialwissenschaften angewiesen.
Auf dem Weg zu einem
allgemeingültigen Kindeswohlbegriff
Hier jedoch – in den Humanwissenschaften – sah es lange Zeit nicht besser aus.
Zwar behaupten die dort tätigen Fachkräfte immer wieder im Einzelfall zu
wissen, was das Beste für ein Kind sei. Vor die Aufgabe gestellt, allgemeine
und verbindliche Kriterien des Kindeswohls anzugeben, haben aber auch sie allzu
oft kapituliert. Bestenfalls wurde der Versuch unternommen, durch die Angabe
negativer Bedingungen, bei deren Vorliegen das Kindeswohl keinesfalls gesichert
sei, einen Ausweg aus der Misere zu finden.
Welche Konsequenzen sind
hieraus zu ziehen? Sollten wir möglicherweise überhaupt aufgeben, nach einer
Definition des Begriffs Kindeswohl zu suchen? Handelt es sich nur um eine
Schimäre, der wir nachjagen? Sollten wir zulassen, dass sich jede Profession,
jede Interessengruppe, letztlich jeder Einzelne einen eigenen Begriff zulegt,
nach dem Motto "anything goes"? Löst sich der Begriff des Kindeswohls
auf in den unterschiedlichen Perspektiven der jeweils Beteiligten?
Eine extreme Relativierung
oder gar Aufgabe des Kindeswohl-Begriffs käme einer Kapitulation der
gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Kindern gleich. Dies wäre weder zu
rechtfertigen noch zu verantworten und mit fatalen Folgen besonders für
diejenigen Kinder verbunden, die des besonderen Schutzes bedürfen: Kinder in
hoch strittigen Trennungs- und Scheidungskonflikten, vernachlässigte,
misshandelte, missbrauchte Kinder.
Für eine allgemeingültige
Bestimmung des Begriffs Kindeswohls ist der Bezug sowohl auf die
Grundbedürfnisse als auch auf die Grundrechte des Kindes notwendig, ein
Wechselbezug also zwischen dem, was Kinder brauchen und dem, was Kindern
zusteht. Ein Wechselbezug zwischen deskriptiven Beschreibungen und normativen
Setzungen dessen, was für eine gesunde Entwicklung des Kindes unabdingbar ist.
Ein am Wohl des Kindes
(Best Interest of the Child) ausgerichtetes Handeln wäre demzufolge dasjenige
Handeln, das die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern
orientierte jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt.
Grundbedürfnisse von
Kindern
Zur Sicherung des Kindeswohls ist die Befriedigung elementarer Bedürfnisse
unabdingbar. Erste Versuche einer Konkretisierung basaler kindlicher
Bedürfnisse sind in der Kindeswohl-Trilogie von Goldstein, Freud und Solnit
(1974, 1982, 1988) zu finden. Zu den grundlegenden Bedürfnissen rechnen sie
Nahrung, Schutz und Pflege, intellektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen
der Innen- und Außenwelt. Außerdem brauche das Kind Menschen, die seine
positiven Gefühle empfangen und erwidern und sich seine negativen Äußerungen
und Hassregungen gefallen lassen. Sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit
im späteren Leben bleibe abhängig von seiner Stellung innerhalb der Familie,
d.h. von dem Gefühl geschätzt, anerkannt und als vollwertiges Familienmitglied
betrachtet zu werden.
Von Fegert (2002) stammt
der Versuch, sechs Grundbedürfnisse (Basic Needs of Children) zu identifizieren
und die negativen Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Hierzu
gehören
(1) Liebe, Akzeptanz und
Zuwendung: Der Mangel an emotionaler Zuwendung kann zu schweren körperlichen
und psychischen Deprivationsfolgen bis hin zum psychosozialen Minderwuchs und
"failure to thrive" (nicht organisch bedingten Gedeihstörungen)
führen
(2) Stabile Bindungen:
Bindungsstörungen zeigen sich bei kleinen Kindern zunächst in Auffälligkeiten
der Nähe-Distanz-Regulierung und können später zu massiven Bindungsstörungen
führen
(3) Ernährung und
Versorgung: als Folgen einer Mangel- oder Fehlernährung treten Hunger,
Gedeihstörungen und langfristig körperliche sowie kognitive
Entwicklungsbeeinträchtigungen auf
(4) Gesundheit: Mängel im
Bereich der Gesundheitsfürsorge führen zu vermeidbaren Erkrankungen mit unnötig
schwerem Verlauf, z.B. infolge von Impfmängeln, Defektheilungen etc.
(5) Schutz vor Gefahren von
materieller und sexueller Ausbeutung: psychisch können diese Belastungen zu
Anpassungs- bzw. posttraumatischen Störungen führen, die durch eine Fülle von
Symptomen und teilweise langfristige Erkrankungsverläufe gekennzeichnet sind
(6) Wissen, Bildung und
Vermittlung hinreichender Erfahrung: Mängel in diesen Bereichen führen zu
Entwicklungsrückständen bis hin zu Pseudodebilität.
Ein weiterer Versuch einer
positiven Bestimmung des Kindeswohls stammt von Brazelton und Greenspan. In
ihrem Beitrag "Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern" beziehen sie
ergänzend zu Fegert die soziale und kulturelle Dimension ein (siehe den Artikel
von Resch und Lehmkuhl in diesem Heft).
Grundrechte von Kindern
Kinder sind Träger eigener unveräußerlicher Grundrechte. Die in der
UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Mindeststandards haben zum Ziel, die
Würde, das Überleben und die Entwicklung aller Kinder auf der Welt
sicherzustellen. Der Kinderrechteansatz basiert auf folgenden Prinzipien:
(1) Das Prinzip der Kinder
als Träger eigener Rechte
(2) Das Prinzip der
Unteilbarkeit der Rechte: alle Rechte sind gleich wichtig
(3) Das Prinzip der
Universalität der Rechte: alle Kinder haben gleiche Rechte
(4) Die vier allgemeinen
Prinzipien der Kinderrechtskonvention
(5) Das Prinzip der
Verantwortungsträger: Familie, Gesellschaft und Politik tragen Verantwortung
für die Verwirklichung der Kinderrechte
In den 54 Artikeln der
Kinderrechtskonvention werden Kindern umfassende Schutz-, Förder- und
Beteiligungsrechte zuerkannt. Die in dem "Gebäude der Kinderrechte"
wichtigsten Rechte finden sich in den Artikeln 2, 3, 6 und 12.
Schutzrechte
Der Artikel 2 enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Alle Rechte
gelten für jedes Kind, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache,
Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler, ethnischer oder
sozialer Herkunft, Vermögen, Behinderung, Geburt oder sonstigem Status des
Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.
Weitere Schutzrechte finden
sich in Artikel 8: Schutz der Identität; Artikel 9: Schutz vor Trennung von den
Eltern; Artikel 16: Schutz der Privatsphäre; Artikel 17: Schutz vor Schädigung
durch Medien; Artikel 19: Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger
Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung einschließlich des
sexuellen Missbrauchs; Artikel 22: Schutz von Kinderflüchtlingen; Artikel 30:
Schutz von Minderheiten; Artikel 32: Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung;
Artikel 33: Schutz vor Suchtstoffen; Artikel 34: Schutz vor sexuellem
Missbrauch; Artikel 35: Schutz vor Entführung; Artikel 36: Schutz vor
Ausbeutung jeder Art; Artikel 37: Schutz in Strafverfahren und Verbot von
Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe; Artikel 38: Schutz bei
bewaffneten Konflikten.
Förderrechte
In Artikel 3 ist der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben, demzufolge das
Wohl des Kindes bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen
öffentlicher oder privater Einrichtungen vorrangig zu berücksichtigen ist.
Alle, die für die Entwicklung eines Kindes Verantwortung tragen, sind
verpflichtet, das Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand bei der
Wahrnehmung seiner Rechte zu unterstützen.
Artikel 6 enthält das Recht
auf Leben und Entwicklung. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Überleben
und die Entwicklung des Kindes in größtmöglichem Umfang zu gewährleisten.
Ergänzende Förderrechte
sind festgelegt in Artikel 10: Recht auf Familienzusammenführung; Artikel 15:
Recht auf Versammlungsfreiheit; Artikel 17: Zugang zu den Medien; Artikel 18:
Recht auf beide Eltern; Artikel 23: Recht auf Förderung bei Behinderung;
Artikel 24: Recht auf Gesundheitsvorsorge; Artikel 27: Recht auf angemessenen
Lebensstandard; Artikel 28: Recht auf Bildung; Artikel 30: Recht auf kulturelle
Entfaltung; Artikel 31: Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung; Artikel
39: Recht auf Integration geschädigter Kinder.
Beteiligungsrechte
Nach Artikel 12 hat jedes Kind das Recht, in allen Angelegenheiten, die es
betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung
des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife
berücksichtigt werden.
Weitere Beteiligungsrechte
der Kinder sind niedergelegt in Artikel 13: Recht auf freie Meinungsäußerung
sowie auf Informationsbeschaffung und -weitergabe und in Artikel17: Recht auf
Nutzung kindgerechter Medien.
Verfahrensregeln
Neben den so genannten materiellen Rechten sind eine Reihe von Verfahrensregeln
von Bedeutung. Hierzu gehören neben der Definition des Begriffs
"Kind" (alle Menschen von 0-18 Jahren) die Verpflichtung der Staaten
zur Umsetzung (Artikel 4) und zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Artikel 42),
die Einsetzung eines UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (Artikel 43), die
Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Artikel
44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen
(Artikel 45).
Deutschland hat die
UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert, allerdings nicht uneingeschränkt.
In einer Interpretationserklärung wurden Vorbehalte besonders im Hinblick auf
die rechtliche Situation solcher Kinder formuliert, die aus Krisengebieten nach
Deutschland geflohen sind. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben demnach
nicht die gleichen Rechte wie die deutschen Kinder. Auf Grund
ausländerrechtlicher Vorschriften ist ihr Wohl beispielsweise in puncto Bildung
und Gesundheitsfürsorge nachrangig gegenüber anderen Erwägungen.
Kinderrechte und
Elternrechte – Spannungsfeld aber kein Gegensatz
Die Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte ist Ausdruck für einen
tief greifenden Wandel im Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern. Hier zeigt
sich der Übergang zu einem neuen Generationenverhältnis. An die Stelle der
Unterordnung des Kindes unter den Willen und die Macht der Eltern tritt eine
Beziehung auf der Basis gleicher Grundrechte, in der die Würde und die Rechte
des Kindes neben denen der Erwachsenen einen selbstverständlichen Platz
einnehmen.
Dieser Perspektivenwechsel
darf aber nicht zur Folge haben, tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen
Erwachsenen und Kindern einfach einzuebnen: Kinder sind keine kleinen
Erwachsenen. Auf Grund ihres Alters, auf Grund ihrer sich noch entwickelnden
körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Möglichkeiten bedürfen Kinder des
besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge. Kinder brauchen eigene Kinderrechte.
Sie brauchen ein Recht auf Kindheit, und zwar auf einen Schon- und Spielraum,
in dem Verantwortlichkeit wachsen und eingeübt werden kann.
In dieser Spannung zwischen
Gleichheit einerseits – Kinder sind Menschen – und Differenz andererseits –
Kinder haben altersbedingte spezifische Bedürfnisse – liegt das besondere
Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Immer mehr setzt sich deshalb
durch, das Elternrecht ausschließlich als pflichtgebundenes, treuhänderisches
Recht zu verstehen, das seine Grenze am Wohl des Kindes findet. Elternrecht
heißt heutzutage vor allem Elternverantwortung. Diese Verantwortung beinhaltet
das Recht und die Pflicht der Eltern, "das Kind bei der Ausübung (seiner)
anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen
zu leiten und zu führen" (Artikel 5 der UN-Kinderrechtskonvention).
Dr. Jörg Maywald ist
Soziologe, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Sprecher der
National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland
Literaturhinweise:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.)
Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut
mit Materialien
Bonn 2000
Salgo, Zenz, Fegert, Bauer,
Weber, Zitelmann (Hg.)
Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche
Ein Handbuch für die Praxis
Köln 2002
International Save the Children Alliance
Child Rights Programming
London 2002