Altern hat Zukunft

 

 

Unsere Gesellschaft kommt in die Jahre, frönt aber dem Jugendkult.

 

 

Ein Aufsatz aus "Die Zeit" vom 27. März 2002

 

von

 

Paul B. Baltes,

geboren 1939, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Psychologe und Gerontologe ist einer der weltweit führenden Köpfe auf dem Gebiet der Alternsforschung. Zusammen mit dem US-Soziologen Neil Smelser hat er kürzlich die 26-bändige"lnternational Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences" herausgegeben

 

 

 

Die menschlichen Lebensalter haben ihre jeweiligen Stärken und Schwächen. Das ist eine Alltagsweisheit, die auch wissenschaftlich belegt wurde. Warum ist es gerade jetzt nötig, sie in Erinnerung zu rufen?

Ich stieß auf das Problem, als ich kürzlich zu ergründen versuchte, warum die neue Berliner Regierung im Schnellschussverfahren beschloss, eine der beiden Berliner Universitätskliniken, das Benjamin-Franklin-Klinikum, zu schließen beziehungsweise in eine Art Regionalkrankenhaus umzuwandeln. Als Wissenschaftler, der sich unter anderem mit der Zukunft des Alterns und des Alters beschäftigt, aber auch als einfacher Bürger wunderte ich mich über diesen Koalitionsbeschluss.

Sicher, Berlin hat massive Finanzierungssorgen, aber eine von zwei Universitätskliniken dichtmachen? Ist das eine Priorität mit Langzeitperspektive? Wird man so die Berliner Wirtschaft auf den richtigen Weg bringen und Berlin im Dienstleistungssektor auf das Niveau einer Weltstadt bringen? Schließlich ist doch aus zahlreichen Analysen bekannt, dass Gesundheitsforschung und Medizinpraxis zu den wichtigsten Eckpfeilern von Gesellschaften gehören, die immer älter werden und somit immer mehr und neuartiger medizinischer Betreuung bedürfen. Städte wie San Francisco, Boston oder London haben dies längst erkannt: Um die Zukunft zu sichern, braucht man ein Mehr und nicht ein Weniger an excellenter Medizinforschung und Medizinpraxis. Nur so kann man auch ökonomisch von dem Altern der Bevölkerung profitieren.

Als Psychologe und Alternsforscher begann ich, mir Gedanken über das Alter unserer politischen Führung zu machen. Könnte es sein, dass unsere Politiker zu jung sind - dass sie deshalb die mit dem Älterwerden der Bevölkerung zusammenhängende Probleme der Zukunft nicht begreifen können? Und das Altern aus diesem Grund nur als ökonomische Belastung, nicht aber auch als Chance für Fortschritt und Innovation betrachten können?

Als ich mir daraufhin die Statistiken der Altersverteilung im Deutschen Bundestag und im Berliner Abgeordnetenhaus ansah, erlebte ich eine Überraschung. Im Bundestag, der 666 Abgeordnete umfaßt, waren in der gegenwärtigen Wahlperio- de zum Zeitpunkt der Wahl nur 1,6 Prozent älter als 65. Älter als 70 waren 0,4 Prozent. Das ist eine einzige Person! Im Berliner Abgeordnetenhaus sind gegenwärtig 0,7 Prozent der Parlamentarier älter als 65. Auch dort ist es nur einer älter als 70.

Eine derart dramatische Unterrepräsentanz der älteren Bevölkerung reizt zur Polemik: Fehlt der in der Blüte ihrer Jahre stehenden Berliner Koalitionsriege am Ende ganz einfach die Lebenserfahrung, um die Prioritätensetzung in der Universitätsmedizin mit einer vernünftigen Langzeitperspektive angehen zu können? Womöglich kann man aufgrund fehlender eigener Betroffenheit und generationsübergreifender Lebenserfahrung schlicht nicht verstehen, was eine immer älter werdende Bevölkerung an Medizinforschung und hochmoderner Medizinpraxis benötigt. Trifft dies zu, werden die betreffenden Politiker erst recht nicht begreifen können, dass in einem Defizit der Motor für Fortschritt liegen kann. In unserem Fall heißt das: Wenn die Menschen in einer Gesellschaft immer älter werden, dann steckt in der Entwicklung der medizinischen Forschung ein enorm produktives Wachstumspotenzial. Dass Defizite Quellen des Fortschritts sind, ist doch ein längst anerkanntes Prinzip. So gehen anthropologische und gesellschaftstheoretische Theorien davon aus, dass Kultur aus der Notwendigkeit zur Kompensation biologischer Nachteile des Menschen entstanden ist.

Diese Anfangserkenntnisse regten mich an, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Mein wissenschaftlicher Hintergrund half mir dabei. Als Entwicklungspsychologe der Lebensspannen bemühe ich mich, die Phasen des Lebens von der Kindheit bis ins hohe Alter im Ganzen in den Blick zu nehmen und ihre relativen Stärken und Schwächen herauszufinden. Die Forschung zeigt, dass der Lebensverlauf unserer Fähigkeiten und Wissenskörper nicht durch eine einzige Kurve abgebildet werden kann. Vielmehr ist das Zusammenspiel von Biologie, Körper, Kultur und Geist komplex; die Lebensalter haben viele Facetten und bilden jeweils unterschiedliche Qualitäten aus.

Einige Beispiele: Im Sport gibt es Disziplinen wie das Geräteturnen der Frauen, in denen bei Höchstleistungen eindeutig die Jugend dominiert. Wo aber Ausdauer und Erfahrungswissen wichtiger werden, etwa beim Skilanglauf, Marathon oder Golf, da beobachten wir Höchstleistungen auch bei 30- oder sogar 40-Jährigen. Wenn gar extreme Anforderungen an körperliche Ausdauer und Erfahrung gestellt werden, ist Jugend ein Hindernis. Wenn es zum Beispiel um das Besteigen der höchsten Gipfel des Himalaya geht, so erzählte mir kürzlich James Fries, Medizinprofessor in Stanford und selbst Bergsteiger, wollen viele Teams niemanden unter 25 dabeihaben.

Und schließlich gibt es Leistungs- und Wissensbereiche, in denen ältere Erwachsene zu den Besten zählen. Je mehr Lebenserfahrung und Geisteskraft beim Produzieren einer Leistung oder beim Lösen eines schwierigen menschlichen Problems gefordert sind, desto eher können ältere Menschen glänzen. Die jugendliche Schnelligkeit des Denkens und des Körpers können dann von Nachteil sein. Man denke nur an die Weisheit und das langsam gewachsene Expertenwissen von Dirigenten. Jegliches Expertenwissen braucht zur Entwicklung viel Zeit und systematische Übung, etwa 10 000 Stunden oder zehn Jahre im Durchschnitt, wie der amerikanische Expertiseforscher Anders Ericsson von der Universität Florida herausfand.

So hat sich auch in unseren psychologischen Untersuchungen zum Thema Weisheit - definiert als Expertenwissen im Umgang mit schwierigen und unsicheren Fragen der Lebensführung und Lebensdeutung – herausgestellt, dass 60- bis 70-Jährige bei Höchstleistungen in Weisheitsaufgaben eher über- als unterrepräsentiert sind. Dies ist den besonderen Qualitäten des Alters geschuldet: Langzeitperspektive, emotionale Besonnenheit und Lebensklugheit.

Gewiss, aus der Alternsforschung wissen wir auch, dass die sogenannten Altersstärken endlich sind. Im sehr hohen Alter - jenseits der 80 - werden Höchstleistungen immer seltener. Aber auch dort leuchten die Ausnahmen. Man denke nur an den Cellisten Pablo Casals, die Pianisten Arthur Rubinstein und Viadimit Horowitz, den jüngst verstorbenen Dirigenten Günther Wand oder den Philosophen Hans-Georg Gadamer.

Der Lebensverlauf unserer Fähigkeiten und Wissenskörper zeigt also eine komplexe und mehrschichtige Gewinn- und Verlust-Rechnung. Kein Lebensalter besitzt ein uneingeschränktes Primat in Fragen des Wissen und Entscheidens. Nicht zuletzt im Alltagsleben wird deutlich, wie wichtig es ist, die Kompetenz aller Altersgruppen zu nutzen. Nur mit Gleichaltrigen, seien sie nun 25 oder 55 Jahre alt, an der Lösung eines schwierigen menschlichen oder gesellschaftlichen Problems zu arbeiten ist oft nicht der optimale Zugang. Das Gespräch zwischen den Lebensaltern ist so wichtig, weil sich darin ja verschiedene Generationen und deren einzigartiges Wissen begegnen und miteinander in einen spezifischen Austausch treten können. Dabei ist zu beachten, dass Senioren meist besser als Jüngere in der Lage sind, bei der Lösung von Weisheitsaufgaben vom Input anderer zu profitieren. Auch sind sie in der Regel besser fähig, ihre Emotionen zu regulieren. In Fragen der emotionalen Intelligenz nimmt die Leistungsfähigkeit im Durchschnitt mit wachsendem Alter zu – jedenfalls bis in die siebte oder achte Lebensdekade. Auch dies ist durch psychologische Studien, nicht zuletzt an meinem Institut, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, belegt.

Inzwischen habe ich mir weitere Daten über die Altersverteilungen im Deutschen Parlament angeschaut. Die Faktenlage ist klar. Es gibt eine historische Veränderung in Richtung eines zunehmenden Ausschlusses der Älteren, vor allem der 60-Jährigen, vom Parlamentsgeschehen. In den ersten vier Wahlperioden nach dem Zweiten Weltkrieg betrug der Anteil von 60-Jährigen und Älteren im Bundestag zwischen 17 und 25 Prozent. Ungefähr seit 1972 hat sich der Anteil dieser Altersgruppe gut halbiert: auf etwa 10 Prozent und weniger. Das ist gerade mal ein Drittel des prozentualen Anteils der über 60-Jährigen an der Wahlbevölkerung. Die Diskrepanz zwischen der Größe der Wählergruppe und der Anzahl ihrer Vertreter im Bundestag nimmt sogar noch dramatisch zu, wenn man die Personen ab 70 betrachtet. Nota bene! In der gesamten Bevölkerung sind mehr als 10 Millionen älter als 70. Eine einzige Person hatte dieses Alter bei ihrer Wahl in den heutigen Bundestag.

Dieser krasse Rückgang der Älteren im Parlament ist umso überraschender, als zwei Faktoren der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung eigentlich dagegen sprechen sollten. Der erste ist die generelle Zunahme des Bevölkerungsanteils von Älteren aufgrund längerer Lebenserwartungen und geringerer Fertilitätsraten. Relativ gesehen, gibt es also immer mehr Ältere. Der zweite Faktor ist die enorme Verbesserung des körperlichen und mentalen Gesundheitsstandes älterer Menschen. Wie wir aus der Forschung wissen, ist ein heutiger 70-Jähriger im Vergleich zu den Alten vor 25 Jahren etwa fünf Jahre "jünger', was sein allgemeines körperliches und mentales Funktionsprofil anbetrifft. Es gibt also nicht nur mehr Alte, sondern auch immer fittere Alte.

Ein Blick auf andere Länder lehrt, dass es durchaus möglich ist, mehr Ältere in Parlamenten zu berücksichtigen. In den USA sind im gegenwärtigen 100-köpfigen Senat sage und schreibe 52 (also 52 Prozent!) älter als 60. Älter als 70 sind 12 Personen (12 Prozent). Auch im Repräsentantenhaus, das 435 Abgeordnete umfaßt, gibt es relativ gesehen deutlich mehr Alte als im Deutschen Bundestag. Insgesamt 138 (32 Prozent) der Mitglieder des US-Repräsentantenhauses sind älter als 60, 29 älter als 70 (7 Prozent). Im Vergleich zu Deutschland sind dies Multiplikationsfaktoren in der Größenordnung von fünf bis zehn - wahrlich keine Kleinigkeit! Anders formuliert: In Deutschland steigen Parlamentarier etwa zehn Jahre früher aus als in Amerika. Und die USA werden doch allgemein für das Land gehalten, in dem der Fortschrittsgedanke mehr als irgendwo sonst zur vorherrschenden Mentalität gehört.

Auch in Großbritannien gibt es eine stärkere Beteiligung der Alten im Parlament als hierzulande. Gewissermaßen von selbst versteht sich das im aristokratischen House of Lords, wo von 534 Mitgliedern insgesamt 289 (41 Prozent) älter als 70 Jahre alt sind. Aber auch in dem - mit unserem Bundestag eher vergleichbaren - House of Commons, dem insgesamt - 656 Abgeordnete angehören, sind immerhin 103 Personen älter als 60. In Prozentzahlen ist dies etwa doppelt so viel wie in Deutschland (16 Prozent gegenüber 8 Prozent).

Politwissenschaftler und Soziologen würden an dieser Stelle sicher manches einwerfen: zum Beispiel, dass demokratische Repräsentanz nicht nach Alter organisiert sein muss; weiterhin, dass es auch andere Bevölkerungsgruppen gibt, die unterrepräsentiert sind. Und schließlich werden einige einwenden, dass eine große Repräsentanz höherer Lebensalter dem Anciennitätsprinzip geschuldet sei, also durch zu häufige Wiederwahl in Ämter und Funktionen zu erklären sei. Dies sind wichtige und überlegenswerte Argumente. Doch Anciennität ist nicht der einzige Weg, der Ältere ins Parlament führt. Es gibt, wie das Beispiel vieler Länder zeigt, auch die Möglichkeit des politischen Neueinstiegs im Alter. Der jüngst erfolgte Übertritt des 58-jährigen Christoph Stölzl in die Berliner Politik setzt auch bei uns in diesem Sinne ein positives Signal.

Mir kommt es zunächst einmal auf die schiere Feststellung der Tatsache an, dass, aus welchen Gründen auch immer, im gegenwärtigen deutschen Parlamentsbetrieb der "Jugendwahn" regiert. Er bewirkt, dass man mit 60 in Pension geschoben wird, nach den Regeln des Beamtenstaates und der Wegwerfgesellschaft, die in den Älteren bloß Ausschuss sehen. Dies fährt dazu, dass ein wesentlicher Teil der Humankompetenz unserer Gesellschaft im Parlament nicht genutzt werden kann.

Ich weiß natürlich, dass die großen Parteien sich um ihre Senioren und die Altenpolitik kümmern und hierzu auch große und nützliche Denkschriften mit Enthusiasmus und wissenschaftlicher Fundierung produziert haben. Auch weiß ich, dass es von den Parteien gestützte so genannte 60plus-Seniorenvereinigungen gibt. Aber dies hat bisher nicht zu einem Anstieg der Anzahl älterer Abgeordneter geführt. Das Gegenteil ist der Fall, zumindest was den Bundestag betrifft. Die Gründung von Seniorenvereinigungen geht damit einher, dass Ältere im Bundestag zumindest offiziell immer weniger zu sagen haben. Sind politische Seniorenvereinigungen am Ende nur eine elegante Form, eine gegenüber Alten immer repressiver werdende Demokratie zu verschleiern?

Ich kann mit gut vorstellen, dass man mir, dem an Gerontologie und alten Menschen Interessierten, vorwirft, mein Zwischenruf sei pro domo. Dieser Einwand ist bei mir angekommen, aber er trifft nicht den Punkt, den ich meine. Mein Hauptargument ist nicht, dass Alte im Parlament vertreten sein sollen, um ihre eigene Wohlfahrt zu garantieren. Wie wir aus mancher Studie wissen, steht es um die Alten in Deutschland gar nicht so schlecht.

Die Wohlfahrt der Alten zu fördern ist also nicht das Primärziel meines Zwischenrufs. Mein Hauptargument ist, dass die Optimierung des Gemeinwohls das orchestrierende Zusammenspiel der Wissenskörper und Entscheidungsprioritäten der verschiedenen Lebensalter und Generationen braucht - nicht zuletzt im Parlament und in der Regierung. Es ist also auch im Interesse der Jugend, mehr Alte im Parlament zu haben. In der gemeinsamen Anstrengung aller Lebensalter und aller Generationen liegt die Quelle umfassender politischer Vernunft, die auf Weitblick und Rücksicht gründet.

Die Exklusivität von Jugend im Parlament ist also ein Problem für unser Gemeinwohl. Wie können wir sicherstellen, dass bei politischen Beratungen und Entscheidungen im Parlament das Lebenswissen aller Altersgruppen und Generationen zum Tragen kommt? Die moderne Gesellschaft ist ein System, das seine Stärke aus seiner kooperativen und alle ihre Subgruppen umgreifenden Struktur bezieht. Gerade in einer Zeit, da immer mehr Leute immer älter werden, in der vor allem die jungen Alten, die 60- bis 70-Jährigen, immer gesünder werden, ist es notwendig, die besonderen Fähigkeiten aller Lebensalter und Generationen in das Kalkül effektiver Politikberatungen und Politikentscheidungen einzubringen.

Erinnern wir uns an das Motto der Vereinten Nationen, die 1999 das Jahr des Alters feierten: "Towards a society für all ages". Auch die Parteien in Deutschland sollten sich davon beflügeln lassen. Wider die Exklusivität der Jungen im Parlament!