München, 25. August 2005

 

Rede von

 

Herrn Bundespräsidenten a.D. Professor Dr. Roman Herzog
zur Auftaktveranstaltung Forum "Deutschland für Kinder - denn Kinder
haben keine Wahl" am Donnerstag, dem 25. August 2005, um 11.00 Uhr
in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin

 

Herausgeber: Büro Bundespräsident a.D. Professor Dr. Roman Herzog

 

Es gilt das gesprochene Wort!

 

 

Anrede!

 

Die Verbände, die Sie heute zum Start der Initiative "Deutschland für Kinder" in die Akademie der Künste eingeladen haben und für die ich im Augenblick spreche, setzen sich alle in irgend einer Weise für die Kinder und damit zugleich für die Familie ein, gleichzeitig ob diese nun vollständig oder unvollständig ist, und gleichgültig auch, aus welchem Grund das der Fall ist. 

 

Nun kann man natürlich lange darüber diskutieren, welche Gründe für ein solches, zum Teil sogar leidenschaftliches Engagement sprechen. Jedenfalls warne ich - hier ganz besonders - vor den hohlen Sprüchen, mit denen wir Deutsche je länger je mehr die Argumente zu ersetzen pflegen. Genau so warne ich aber auch vor den "reinen" Nützlichkeitserwägungen, mit denen wir oft selbst die Furcht ersticken, wir könnten als altertümlich oder gar ewig-gestrig disqualifiziert werden.

 

Das Argument beispielsweise, wir müssten mehr Kinder haben, damit "die eines Tages unsere Renten bezahlen", ist an sich schon falsch, weil weder eine "aktive" Familienpolitik noch eine realistische Zuwanderungspolitik je imstande sein werden, das zu finanzieren, was im Bereich der Renten und der Gesundheitspflege auf unsere Kinder und Enkel zukommt. Aber entlarvend ist dieses Argument allemal: Es zeigt nämlich, dass es dem, der es verwendet, nur um sein eigenes Schicksal geht und nicht um das der Kinder und Enkel, und es zeigt weiterhin, dass er dieses Schicksal nur als eine finanzielle Größe und nicht als mehr betrachtet. Armer Mensch, der du bist!

 

Auf der anderen Seite ist es aber genau so. Was ist uns da nicht alles erzählt worden! Die Familie sei deshalb schutzwürdig, weil sie die "Keimzelle des Staates" sei - aber was heißt das schon? Oder, wie die Weimarer Verfassung es - aus bestem Wollen heraus - sagte: "Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes" - da kann man heute buchstäblich hinter jedes Wort ein Fragezeichen setzen. Ich hoffe, Sie ersparen mir weitere Beispiele!

 

Nur eines von diesen Stereotypen sollte uns zu kurzem Nachdenken veranlassen. Ich meine den Satz: "Kinder sind die Zukunft unseres Volkes", den man auch immer wieder hören kann, wenn die geringe Reproduktionsrate der Deutschen öffentlich diskutiert wird. Ich weiß nicht, ob es ein allzu großer Schaden für die Welt ist, wenn das deutsche Volk nur deshalb ausstirbt, weil es sich selbst nicht mehr ausreichend fortpflanzt. Den Untergang von Völkern hat es in der Geschichte immer wieder gegeben - ohne dass daraus immer gleich Katastrophen entstanden wären. Aber lassen Sie uns darüber doch noch etwas weiter nachdenken. Ich stelle dazu die ganz unbefangene Frage: Wie geht das eigentlich, wenn ein Volk ausstirbt? Denn das ist ja schließlich kein Unternehmenskonkurs, in dem ein Management durch einen Insolvenzverwalter ersetzt wird und in dem nach ein, zwei Jahren alle Bestandteile von der Erdoberfläche verschwunden sind. Es braucht Jahrzehnte, bis ein Volk ausgestorben ist, zumal in einer Zeit, in der die Lebenserwartung der Menschen von Jahr zu Jahr steigt. Da stellt sich doch auch die Frage: Wie organisiert man dann diese Jahrzehnte?

 

Ich will Ihnen das an einigen ganz banalen Fragen ausmalen:

 

Beginnen wir doch mit der Rente! Wenn immer weniger Menschen arbeiten und voraussichtlich auch immer weniger verdienen - wer zahlt dann die Renten wirklich? Braucht man eines Tages etwa die oft geforderte Besteuerung der Produktivität? Auch wenn die Produktion wegen schrumpfender Bevölkerung gar nicht mehr abgesetzt werden kann? Kann man, wie wir das gegenwärtig tun, ganz auf den Export setzen? Obwohl unsere Konkurrenten auf den Weltmärkten immer besser werden?

 

Und wenn die Städte straßenzugsweise leer zu stehen beginnen - wer wird sie bewohnen oder gar erhalten? Wie haben sich die alten Römer gefühlt, die die Völkerwanderung überlebt hatten und ihr Leben nun zwischen Ruinen fristen mussten? Müssen wir das unbedingt noch einmal erleben?

 

Welche Folgen hat es, wenn in absehbarer Zeit die wichtigsten Multiplikatoren des öffentlichen Commen Sense - Lehrer, Journalisten, Politiker - selbst nicht mehr aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, Kinder aufzuziehen?

 

Wer wird die Übrigbleibenden pflegen und medizinisch betreuen?

Glauben wir wirklich, dass ein ärztlicher Beruf, dem die Patienten

abhanden kommen, auf die Dauer attraktiv sein wird?

 

Und schließlich, aufs Ganze gesehen: Was wird das für ein Staat sein, in dem die Alten an der Wahlurne bestimmen können, was die wenigen Jungen zu tun, zu lassen und vor allem zu zahlen haben? Können Sie sich eine solche Demokratie vorstellen? Von der Vereinsamung, vom Einschlafen, der menschlichen Beziehungen zwischen den Generationen habe ich dabei noch gar nicht gesprochen!

 

Wir haben ganz offensichtlich kein Gefühl mehr dafür, was eine Alterspyramide wirklich ist: kein Behelf für statistische Darstellungen, sondern ein in sich geschlossenes, permanent zwischen den Generationen wirkendes System wirtschaftlicher und sozialer, vor allem aber auch emotionaler Beziehungen. Unsere Generation ist auf Grund der erfreulich hohen Lebenserwartung fast die erste, in der die allseits gepriesene Drei-Generationen-Familie als Regelfall möglich wäre. Und: Praktizieren wir sie? Nein, und zwar weder von Seiten der Eltern noch zumeist von Seiten der Großeltern. Wie sollen es die Kinder dann lernen?

 

Die Frage ist, was geschehen muss, damit wenigstens die Voraussetzungen für einen besseren Stand der Familie und ihrer Kinder geschaffen werden - ob genug Menschen von solchen Voraussetzungen dann Gebrauch machen, haben wir als freiheitlicher Rechtsstaat ja ohnehin nicht in der Hand. Ich frage noch präziser: Was sind wir den Kindern unseres Landes schuldig? Und ich versuche, diese Frage auf sechs Ebenen zu beantworten.

 

Erstens: Kinder brauchen ein Leben ohne Gewalt. Ich formuliere das bewusst so, denn es geht nicht nur darum, sie vor der Gewalt anderer zu schützen, sondern auch vor ihrer eigenen, also vor ihrer eigenen Gewalttätigkeit. Viele der hier vertretenen Organisationen arbeiten bereits auf diesem Gebiet - ich erwähne nur den Kinderschutzbund und meine eigene, das "Bündnis für Kinder - gegen Gewalt.

 

Zweitens: Kinder müssen zwar nicht im Reichtum, sie dürfen aber auch nicht in Armut aufwachsen - zumindest solange um sie herum der Wohlstand herrscht, den wir fast alle genießen. Und dabei geht es nicht nur um das Haushaltsgeld der Eltern, sondern um vieles mehr. Ich erwähne nur den Wohnraum, den sie benötigen, um ein Gefühl für Individualität zu entwickeln.

 

Drittens: Kinder müssen die Gelegenheit bekommen, jenes Urvertrauen und damit zugleich jenes Selbstvertrauen zu entwickeln und zu lernen, ohne das weder Selbstwertgefühl noch Selbstbewusstsein möglich sind. Das heißt aber: Sie brauchen vom ersten Tag an Liebe und je länger desto mehr auch die Achtung als wertvolle Menschen.

 

Viertens: Kinder wollen Regeln für ihr eigenes Leben und Verhalten. Man kann diese Regeln als Normen, Werte oder meinetwegen auch Tugenden bezeichnen - das ist mir gleichgültig, und wahrscheinlich trifft jeder dieser Begriffe das, was ich meine, nur zu einem Teil. Man hat derlei lange Zeit als Missachtung ihrer Individualität und Freiheit in Frage

 

gestellt. In Wirklichkeit hat man ihnen so aber das vorenthalten, was Soziologen und Psychologen als Entlastung bezeichnen, und die Verweigerung solcher Entlastung ist ihrerseits ein flagranter Eingriff in die persönliche Freiheit des Menschen!

 

Fünftens: Kinder verdienen alle Bildungschancen, die unsere Gesellschaft überhaupt zu bieten hat. Und sagen wir es deutlich: Sie brauchen zugleich Aufstiegschancen, gleichgültig ob man damit nur den beruflich-finanziellen Aufstieg meint oder auch den gesellschaftlichen, die Mehrung ihres Sozialprestiges. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, die die absolute Gleichheit der Menschen aus bitterer Erfahrung bestreitet, sondern es ist zugleich die Überlebensfrage dieser Gesellschaft selbst. Wenn die Chance zum sozialen Aufstieg nicht realer wird als heute, wird diese freie Gesellschaft auf die Dauer unglaubwürdig bleiben, wird sie die Konkurrenz auf den Weltmärkten nicht bestehen und wird sie letztlich auch die Lücken nicht füllen können, die daraus entstehen, dass immer weniger hochqualifizierte Männer und vor allem Frauen Kinder in die Welt setzen. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund werden die Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Milieus in der Zukunft noch viel wichtiger sein als heute. Das heißt aber auch, dass wir für folgende Schülergruppen mehr Ganztagesangebote brauchen: für deutsche Kinder aus bildungsfernen Familien, für Kinder aus ausländischen Familien und schließlich für Kinder, die, aus welchen Gründen auch immer, einmal einen leistungsmäßigen "Durchhänger" haben. (Mehr wird sich, wenn die Unterrichtsangebote seriös sein sollen, in absehbarer Zeit ohnehin nicht finanzieren lassen)

 

Sechstens: Die Welt, in die wir unsere Kinder und Enkel entlassen, wird, soweit sich das heute voraus sehen lasst, schwieriger und härter sein als die unsrige. Also sind wir es ihnen schuldig, ihnen eine gewisse "Wetterfestigkeit" mitzugeben, die ihren Urgrund in Selbstvertrauen, Leistungsfreude und Freude am Erfolg haben wird natürlich bei jedem nach seinen Fähigkeiten und seiner seelischen Stabilität, aber doch bei jedem so weit, wie seine angebotene Ausstattung es zulässt, auch seine angeborene Fähigkeit, Misserfolge einzustecken übrigens. Dass wir uns nicht missverstehen: Ich meine nicht den verbissenen Ehrgeiz, den man vor allem uns Deutschen nachsagt, sondern den gleichsam sportlichen Ehrgeiz, der Probleme aus einer "Das-wäre-doch-gelacht-Mentalität" angeht. Das zu vermitteln, wäre des Schweißes aller Edlen wert!

 

Wer so eine Aufzählung hört (und die meine war mit Sicherheit nicht vollständig), der stellt sich unwillkürlich die Frage, ob sie nicht eigentlich zum Inhalt einer rechtsverbindlichen Festlegung werden müsste - wenigstens in ihren wesentlichen Punkten, und am nächsten liegt in Deutschland dabei immer der Gedanke an die Verfassung. Sie wissen vielleicht, dass ich nichts von Verfassungsartikeln halte, in denen zwar schöne Gedanken stehen, deren Beherzigung dann aber von einem diffusen Gemisch aus Bruttoinlandsprodukt, Staatsquote und freiwilliger Einsicht des Bürgers abhängt. Trotzdem halte ich hier eine Klarstellung in den wichtigsten Punkten für sinnvoll, ja für notwendig.

 

In allen unseren Verfassungen gibt es Artikel, die sich mit der Erhaltung des Staates und vor allem seiner freiheitlichen Demokratie befassen. In einer Demokratie sind Staat und Volk aber identisch. Ist es dann nicht sinnvoll, Grundsätze mit aufzunehmen, die die Rechte der Kinder, unabhängig von utilitaristischen Erwägungen stärken und gerade damit einen Beitrag leisten, mehr Platz für Kinder in den Köpfen und Herzen der Menschen zu schaffen? In die Europäische Grundrechts-Charta, die unter meinem Vorsitz geschrieben wurde, haben wir wenigstens das Verbot der Kinderarbeit aufgenommen. Das ist, wenn man einmal damit anfängt, gewiss zu wenig. Die sechs Punkte, die ich soeben angesprochen habe, mögen zu viel sein. Aber das Thema als solches, so schwierig es ist, sollten wir doch einmal ernsthaft und zugleich realistisch diskutieren!

 

Dagegen spricht auch nicht, dass im Grundgesetz schon der "besondere Schutz" der Familie nieder gelegt ist. Wo eine Familie nicht funktioniert, müssen Kinder auch Rechte haben, die sich gegen die Familie richten. Kinderrechte und Familienschutz müssen also nebeneinander stehen können.

 

Aber damit ist natürlich das eigentliche Dilemma solcher Überlegungen angesprochen. Auf dem Feld, von dem wir hier reden, ist der Staat, an den sich eine Verfassung ja primär wendet, nur zum geringsten Teil handlungsfähig. Er kann über den Schutz von Kindern und die Höhe des Kindergeldes entscheiden, über die pädagogischen Ziele und Methoden seiner Schulen, über die Förderung bildungsferner Schüler und was dergleichen mehr ist. Aber in den zentralen Fragen sind andere gefordert: die Hauseigentümer, wenn es um die Vermietung von Wohnraum an Familien mit Kindern geht; die Arbeitgeber, wenn es um Betriebskindergärten oder um familienfreundliche Arbeitszeitregelungen geht; die Nachbarn, wenn es um den Lärm von Kindern und Kindergärten geht, und vor allem die Eltern, wenn es um Liebe, Urvertrauen, Vermittlung von Werten geht - ich erspare Ihnen weitere Beispiele.

 

Das werden wir allein mit Rechtsvorschriften nicht schaffen, auch wenn sie in der Verfassung stehen sollten. Dazu gehört ein Umdenken in unserer ganzen Gesellschaft - und wenn irgendwo umgedacht werden soll, muss auch "umgeredet" werden, und das heißt nicht, wie sonst bei uns üblich, "herum geredet", sondern es muss klar und deutlich, es muss "Tacheles" geredet werden! Dazu brauchen wir Journalisten, Schriftsteller, vor allem Drehbuchautoren, die die Familie und die Kinder anders darstellen als bisher üblich. Dazu brauchen wir Fernsehsender, die - bei aller Realitätsnähe - auch intakte, vielleicht sogar beispielhafte Familien darstellen. Und wenn ich auch dabei bleibe, dass die Kindererziehung zunächst Aufgabe der Eltern ist, so brauchen wir auch, wieder mehr Lehrer, die die Erziehung und die Ermutigung ihrer Schüler auch als ihr eigenes, als ihr eigentliches Dienstgeschäft betrachten.

 

Das alles ist nur mit Gesetzen und Verordnungen nicht zu erreichen, und finanzieller Aufwand ist zwar notwendig, aber er reicht bei weitem nicht aus. Notwendig ist das große Umdenken, und das ist nur zu erreichen, wenn viele unaufhörlich davon reden, nicht nur in gelegentlichen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen wie heute, sondern bei jeder denkbaren Gelegenheit - in der Familie, am Arbeitsplatz, während der täglichen Omnibusfahrt, am Urlaubsstrand und meinetwegen auch an den so verpönten Stammtischen. Reden von der Freude und Genugtuung, die Kinder verschaffen können, von den konkreten Problemen, die eine kindentwöhnte Gesellschaft mit sich bringt, und vielleicht auch von der Aufgabe, die daraus für jeden einzelnen entspringen kann.

 

Dem dient diese - erste - Zusammenkunft, und dem dient vor allem auch ihre Öffentlichkeit.