Deutschland und die Welt |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.2004, Nr. 300, S. 10 |
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Das Modell von der Mosel
Die "Cochemer Praxis" schlichtet Kindschaftsstreitigkeiten / Von
Bernd Fritz
COCHEM, im Dezember. Der geschiedene Vater Reinhard K. aus Bingen und der
ledige Vater und Schauspieler Mathieu Carrière haben einiges gemeinsam. Als die
Ehe von Reinhard K. in die Brüche ging, wurde er vom Umgang mit seinen beiden
Kindern ausgeschlossen. Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit durch zwei
Instanzen mit fünf Gutachten und dem Resultat, daß die Mutter mit den Kindern
unbekannt verzog und Reinhard K. aufgab. Als der in Hamburg lebende Mathieu
Carrière von der Mutter seiner Tochter verlassen wurde, bekam er das Kind immer
seltener und schließlich gar nicht mehr zu sehen. Der Gang zum Gericht half in
Hamburg sowenig wie in Bingen, und der Wegzug der Mutter tat auch hier ein
übriges.
In einem gravierenden Punkt jedoch unterscheiden sich die beiden Fälle. Er
betrifft die Wahl des neuen Wohnsitzes durch die Mütter. Im Fall Carrière war
es Venedig, im Fall K. war es Zell an der Mosel. Der Schauspieler ging an die
Öffentlichkeit, sprach auf Väter-Demonstrationen und internationalen
Familienrechtskongressen und wurde bei einem privaten Gespräch vom deutschen Innenminister
über seine Erfolgsaussichten orientiert: Es sei schwieriger, so Otto Schily, in
Deutschland das Sorgerecht und das Umgangsrecht zu reformieren, als im Nahen
Osten Frieden zu stiften.
Reinhard K. indessen, der nach neun Monaten der Ungewißheit und strikter
Auskunftsverweigerung seitens der Behörden durch Zufall den Aufenthaltsort
seiner geschiedenen Frau und der Kinder erfuhr, schöpfte Hoffnung, ja, er tat
einen kleinen, wenn auch noch inneren Freudensprung. Denn die Gemeinde Zell
liegt im Landkreis Cochem-Zell und damit im Bezirk des Amtsgerichts Cochem.
Dort richtet seit 25 Jahren der Familien- und Vormundschaftsrichter Jürgen
Rudolph. Das heißt, er schlichtet mehr, als daß er richtet, und das in höchst
bemerkenswerter Weise. Seit mehr als acht Jahren hat er in streitigen
Kindschaftssachen kein Urteil mehr gefällt, seit vier Jahren finden selbst bis
zur Raserei verfeindete und verbitterte Eltern ausnahmslos zum Konsens. Und das
bei 70 000 auf 60 Gemeinden verteilten Bewohnern des Landkreises sowie einer
ständig zunehmenden Zahl hochstreitiger Auseinandersetzungen zwischen
getrennten Eltern mit und ohne Trauschein. Auch die in Cochem neu anhängig
gemachte Kindschaftssache K. gegen K. bildete da keine Ausnahme: Seit einigen
Monaten erfreuen sich Vater Reinhard und seine Kinder nach dreieinhalbjähriger
Zwangspause wieder regelmäßiger Kontakte.
Das Geheimnis dieses und ähnlicher Wunder hat einen Namen: "Cochemer
Modell" heißt es gemeinhin, "Cochemer Praxis" bevorzugt Richter
Rudolph, wenngleich er den Modellcharakter dessen, was seit gut zwölf Jahren im
Familiengerichtsbezirk Cochem praktiziert wird, nicht bestreitet. Lüftet man
den Schleier, so tritt, wie bei vielen Geheimnissen, unerwartet
Selbstverständliches und verblüffend Folgerichtiges zutage. Ein Geheimnis
bleibt allenfalls, wieso darauf in den restlichen 460 deutschen
Familiengerichten niemand gekommen ist.
Das Selbstverständliche besteht in den Gemeinplätzen: daß das Wohl der Kinder
im Vordergrund steht, daß das Recht der Eltern auf Umgang mit ihren Kindern
primär ein Recht der Kinder auf Umgang mit ihren Eltern ist und daß den Kindern
auch nach der Trennung der Eltern ein Mindestmaß an Familienleben erhalten
bleiben soll. Mit solchen Vorsätzen Ernst gemacht und die nötigen praktischen
Schlußfolgerungen gezogen zu haben macht den Unterschied zwischen der Cochemer
und der üblichen und übrigen deutschen Rechtspraxis aus.
Geht ein Elternteil vor Gericht, ist von einer Eskalation des Konflikts
zwischen den Eltern auszugehen und damit von einer erhöhten Belastung der
Kinder. Die erste Konsequenz des Richters Rudolph: Streitigen Kindschaftssachen
wird Eilbedürftigkeit zugemessen, die Verhandlung findet innerhalb zweier bis
dreier Wochen statt. Andernorts sind ein halbes Jahr und länger die Regel, Zeiträume
ohne Umgang mithin, in denen die Entfremdung der Kinder vom ausgesperrten
Elternteil schon einsetzt und dieser über die Maßen leidet. Bei Vätern komme
es, so Rudolph, zu Persönlichkeitsstörungen, zu Resignation und Demotivierung
im Beruf, bei Müttern, die ebenfalls, wenn auch in sehr viel geringerer Zahl,
betroffen sind, führe die Trennung von den Kindern zu teils schweren
psychischen Erkrankungen.
Die zweite Entscheidung, die sich für Richter Rudolph aus der Achtung des
Familienlebens ergibt: Er fällt keine. "Wenn einer als Sieger und einer
als Verlierer aus dem Gerichtssaal geht, haben immer die Kinder verloren."
Zudem öffne ein Urteil den Weg durch die Instanzen, mit der Folge, daß die
Kinder wegen der langen Verfahrensdauer von sechs und mehr Jahren fast vaterlos
respektive ohne ihre Mutter aufwüchsen. Danach "ist die Karre an die Wand
gefahren" (Rudolph), auch wenn die betreffenden Elternteile bei
europäischen Richtern recht bekommen und die Bundesrepublik Deutschland wegen
Mißachtung des Menschenrechts auf ein Familienleben zu Schmerzensgeld
verurteilt wird - wie in den vergangenen Jahren ein halbes dutzendmal
geschehen.
Den dritten praktischen Schluß aus dem Vorrang des Kindeswohls zog die
Anwaltschaft aus dem Cochem-Zeller und den umliegenden Landkreisen. Anwaltliche
Schriftsätze haben in den emotional stets hochbefrachteten Kindschaftssachen
bekanntermaßen fatale Nebenwirkungen. Sie reizen den jeweiligen Gegner bis aufs
Blut und heizen den Konflikt in verheerender Weise an. Drohungen und Überreaktionen
bei Begegnungen der Eltern führen dann unabwendbar zum gerichtlich verfügten
Aussetzen selbst des kümmerlichsten Restumgangs; meist mit der
Standardbegründung, in das Leben der Kinder müsse zunächst einmal "Ruhe
einkehren". Richter Rudolph und seine Anwälte aber verabredeten, schon zu
Beginn des Verfahrens für Ruhe zu sorgen. Auf Schriftsätze wird, bis auf den
Antrag des Anwalts der klagenden Partei, verzichtet. Der Antrag selbst ist auf
das Nötigste beschränkt, sachlich gehalten und frei von sogenannter schmutziger
Wäsche.
Auch die anderen Beteiligten, die Mitarbeiter des Jugendamts und der
Lebensberatungsstellen sowie die gerichtlichen Gutachter, ließen von ihrem
gewohnten Tun ab und schlossen sich mit Richter und Anwälten zum
"Arbeitskreis Trennung-Scheidung" zusammen. Das geschah vor rund
zwölf Jahren, und seither ist das Familiengericht Cochem kein Kriegsschauplatz
mehr. Die Kontrahenten sehen sich einer Allianz gegenüber, die nur ein
Verhandlungsergebnis zuzulassen gewillt ist: den Kindern beide Eltern zu
erhalten.
Beim Termin dürfen die "Neandertaler", wie Rudolph die in der Regel
hocherregten und Vernunftgründen zeitweilig unzugänglichen Paare nennt, sich
zunächst ungehindert die Meinung sagen. Anwälte, Richter, Gutachter,
Psychologen und Jugendpfleger, die einander auf ihren monatlichen
Arbeitstreffen über den Fall bereits ins Bild gesetzt haben, hören zu. Danach
folgt ein Gespräch, in dessen Verlauf die Parteien niemanden finden, der sich
ihre jeweilige Position kritiklos zu eigen machte. Es endet in der Hälfte der
Fälle mit der Einigung der Eltern.
In den anderen Fällen werden Streithahn und -henne in die Beratung geschickt.
Entweder gleich, im Anschluß an die Verhandlung (beide werden gewissermaßen
noch im Gerichtssaal an die Hand genommen), oder sie müssen sich innerhalb von
zwei Wochen in der Beratungsstelle einfinden. Das Verfahren selbst bleibt
rechtshängig und schwebt so, je nach Sicht, drohend oder schirmend über den
Parteien. Elternteile, die sich der Beratung durch den Psychologen verweigern,
beweisen mangelnde elterliche Verantwortung und riskieren, daß ihnen das
Sorgerecht entzogen wird. Die zeitig angesetzte nächste Verhandlung, stets
binnen dreier Monate, setzt Widerborstige zusätzlich unter Druck: Sie müssen
dem Gericht darlegen, was sie inzwischen hinbekommen haben. Und wehe, einer
nutzt die Zeit, die Kinder dem andern zu entfremden. Da wird Richter Rudolph
ganz amtlich: "Instrumentalisierung der Kinder gegen den Partner im
Elternstreit ist eine Form der Kindesmißhandlung."
Nach einem halben Jahr sind die Uneinsichtigen meist zur Vernunft gekommen. Der
längste Konflikt dauerte achtzehn Monate. Das sind Erfolge, die Skeptiker aus
fernen Gerichtsbezirken gern einem nicht übertragbaren, auf Weinseligkeit
zurückgehenden Moselaner Sonderbewußtsein zuschreiben. Jürgen Rudolph indessen
ist Norddeutscher, geboren und aufgewachsen im Oldenburgischen. Schon früh
blickte der Einundsechzigjährige über den Rand der Gesetzbücher, war nach dem
Jurastudium in Kiel Sprecher des schleswig-holsteinischen Referendarverbandes
und arbeitete in einer Landeskommission zur Neugestaltung der
Juristenausbildung mit. Erfahrungen als Jugendrichter und als Staatsanwalt in
der Zentralstelle zur Bekämpfung der Wirtschaftkriminalität folgten, und bald
nach Aufnahme seiner Tätigkeit als Familienrichter ließ er das erste Gesetz auf
dessen Verfassungsmäßigkeit überprüfen. In einem ungeregelten Sorgerechtsfall
sah sich Rudolph, selbst geschiedener Vater zweier Kinder, einem Elternpaar
gegenüber, das nach der Scheidung wieder zusammengefunden hatte und das
Sorgerecht über die Kinder gemeinsam ausüben wollte. Dem stand der Paragraph
1671 im Wege, dessen Absatz 4 die Alleinsorge vorschrieb. Nicht lange, denn
aufgrund der Vorlage des Richters Rudolph und anderer wurde er vom
Bundesverfassungsgericht am 3. November 1982 für grundgesetzwidrig erklärt.
Auch der Entschluß, sich an der Mosel niederzulassen, keimte früh in Jürgen
Rudolph. Als Student hatte ihn eine Reise nach Paris durchs Moseltal geführt
und dem Flachländer eine unauslöschliche Liebe zu steilen Hängen und reizenden
Flußwindungen eingegeben. Mit seinem Arbeitskreis ist er allerdings zunehmend
in weniger schönen Gegenden unterwegs. Das Interesse von Ausschüssen,
Kongressen, Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen, von Ministerien,
Landtags- und Bundestagsfraktionen an der "Cochemer Praxis" ist groß.
Schon hat sich in Rheinland-Pfalz eine Landeskonferenz gebildet, die ähnliche
Arbeitskreise in den anderen Bezirken entwickeln und miteinander vernetzen
soll. Bald könnte das Modell von der Mosel dem gesamten deutschen Kindeswohl
von der Idee zur Wirklichkeit verhelfen: Seit diesem Herbst ist das
"Cochemer" für den Deutschen Bundestag "ein Modell, das auch in
anderen Bundesländern denkbar ist" (BT-Drucksache 15/37/ 3728).
Denkbar ist auch, daß dem Richter Rudolph, dem vor lauter Engagement fast sein
eigenes fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum entgangen wäre, demnächst die
eine oder andere Auszeichnung zuteil wird. Vielleicht ein Verdienstkreuz für
Einsparungen bei den höheren Gerichtsinstanzen. Oder ein Preis. Wobei es nicht
gleich der sein muß, für den ihn Mathieu Carrière in einer Rede auf dem
Berliner Kongreß "Zerrissene Familien im vereinten Europa" vorschlug:
der Friedensnobelpreis. Obschon die Entschärfung der deutschen Rosenkriege eine
Leistung wäre, die der Befriedung des Nahen Ostens nur wenig nachstünde.
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