Die RHEINPFALZ, 28.07.2003

 

Wie eine Großmutter um ihren Enkel kämpft

Westpfälzerin hat seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu dem Jungen – Bundesinitiative fordert Recht auf Umgang ein

Von unserer Redakteurin Anne-Susann von Ehr

Fast jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. 154.000 Minderjährige sind jährlich davon betroffen. Aber auch für Großeltern kann die Scheidung des Sohnes oder der Tochter schmerzhafte Erfahrungen zur Folge haben. Zwar gibt es ein Gesetz, dass das Recht auf Umgang mit den Enkeln regelt, aber in der Realität warten viele Großeltern vergebens darauf, ihre Enkelkinder in die Arme zu schließen.

Helga K.* hat seit Juli vergangenen Jahres keinen Kontakt mehr zu ihrem Enkel Lukas. Nur vor Gericht und bei einem Gutachtertermin bekam sie den heute zehnjährigen Jungen zu Gesicht, den sie über neun Jahre mit großgezogen hat. Die 55-jährige Großmutter ist enttäuscht – enttäuscht von den Jugendämtern, die sich viel Zeit ließen, von dem Gericht, das erst nach langem Hin und Her ein Gutachten erstellen ließ und es in ihren Augen versäumte, einen Anwalt des Kindes mit einzubinden. Denn Helga K. und ihr Mann wissen: Die Zeit arbeitet gegen sie. Je länger Lukas der Umgang mit ihnen verboten ist, desto mehr entfremdet sich das Kind.

Angefangen hat alles vor zwei Jahren, als die Tochter einen neuen Lebenspartner kennen lernte. Bis dahin hatte die Mittdreißigerin in einer eigenen Wohnung im Elternhaus gewohnt. Helga K. hatte sich, während ihre Tochter arbeitete, um den Enkel gekümmert. "Doch diese Beziehung veränderte unsere Tochter völlig", erzählt die Westpfälzerin. Von heute auf morgen meldete die junge Mutter ihren Sohn von der Schule im Wohnort ab und zog zu ihrem Lebensgefährten. Die Besuche des Jungen bei seinen Großeltern wurden immer seltener, Anrufe der Oma beim Enkel vom Lebenspartner abgeblockt. Dann gab es Streit um das von den Großeltern für Lukas angesparte Urlaubsgeld und ein Satz fiel, dessen Ausmaß Helga K. erst heute so richtig ermessen kann: "Wenn Lukas das Urlaubsgeld nicht bekommt, sorge ich dafür, dass das Kind nicht mehr zu euch kommt."

Rita Boegershausen von der Initiative der Großeltern von Trennung und Scheidung betroffener Kinder in Düsseldorf kennt viele ähnliche Fälle. "Kommt es zur Trennung von den Enkelkindern, ist das wie der lebendige Tod", beschreibt Boegershausen die Gefühle. Aus ihrer Arbeit weiß sie, wie schwer es Großeltern haben, ihr Recht auf Umgang zu erkämpfen. "Trotz der Kindschaftsrechtsreform sind sie oft machtlos."

Dabei zeigen Studien aus der Familienforschung, dass neben der Eltern-Kind-Beziehung und der Geschwister-Beziehung die Verbindung zu den Großeltern zu den wichtigsten familiären Bindungen zählt. Auch der Psychologe, der das Gutachten über Familie K. anfertigte, stellte die enge Bindung zwischen Lukas und seinen Großeltern heraus. Gleichzeitig führte er aber auch an, dass der Junge aus Angst, die Beziehung zu seiner Mutter zu gefährden, seine gute Beziehung zu den Großeltern versuche zu verleugnen. Er leidet sehr unter dem Streit zwischen seiner Oma und seiner Mutter. Der Psychologe kommt zu dem Schluss, dass es dem Kindeswohl entspreche, den Umgang des Jungen mit den Großeltern zu ermöglichen, "weil er ihnen emotional nahe steht".

Wer ermittelt das Kindeswohl?

In Artikel 1685 des Bundesgesetzbuches wird auch der Umgang mit den Enkeln geregelt: "... Großeltern und Geschwister haben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient ..." Meist wird das Recht auf Umgang von Seiten der Rechtsprechenden aber nicht eingeräumt. Boegershausen verweist auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm aus dem Jahr 2000, nach dem bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern und Großeltern das Erziehungsrecht der "personensorgeberechtigten Eltern grundsätzlich Vorrang hat". Und: Großeltern hätten nur dann das Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes diene. "Wir haben ein Recht auf Umgang, aber ein Enkelkind hat kein Recht auf uns", bringt Rita Boegershausen es auf den Nenner. Großeltern müssten den Nachweis erbringen, dass der Kontakt dem Kind gut tue.

Aber wer ermittelt, was im Interesse des Kindes ist, was das Kind wirklich möchte? Seit der Reform des Kindschaftsrechts (1998) kann einem Kind vor Gericht ein Verfahrenspfleger, ein "Anwalt des Kindes", zur Seite gestellt werden, um dessen Interessen in strittigen Sorgerechts- und Umgangrechtsverfahren zu vertreten. Doch von dieser Möglichkeit wird noch viel zu selten Gebrauch gemacht. Dabei kann jeder der so genannten Verfahrensbeteiligten, also Jugendamt, Anwalt, Elternteil, das Hinzuziehen eines Kinderanwalts anregen.

Nach Schätzungen des Frankfurter Familienrechtlers Professor Ludwig Salgo werden mittlerweile bei einem Viertel der jährlich 20.000 sehr strittigen Fälle in Deutschland Verfahrenspfleger beauftragt.

Etliche Richter fürchteten offenbar, durch den Rechtsbeistand werde zusätzlicher Unfrieden in den Gerichtssaal getragen, sucht Corina Weber, Verfahrenspflegerin aus Frankfurt, nach einem Grund, warum der Kinderanwalt an Familiengerichten nicht schon längst selbstverständlich ist.

Im Gegensatz zu einem Gutachter, den viele Richter in Zweifelsfällen hinzuziehen und der neutral sein muss, verstehen sich die Verfahrenspfleger als reine Interessenvertreter des Kindes. So versucht Corina Weber in Gesprächen mit dem Kind und den Eltern, sich ein Bild von der Situation, den Wünschen und Bedürfnissen des Sprösslings zu machen. Auch bei dem Gerichtsverfahren vertritt sie das Kind und gibt vor dem Urteil ihre Empfehlung ab. "Wir achten beispielsweise auch darauf, dass nach dem Zeitempfinden des Kindes gearbeitet wird", kritisiert Weber die oft monatelange Zeitschinderei der einzelnen Parteien vor Gericht.

Helga K. und ihr Mann sind ungeduldig und verärgert, weil sich das Verfahren schon so lange hinzieht. Im Mai entschied ein Amtsrichter – nach zehn Monaten – dass den Großeltern zunächst ein begleitetes Umgangsrecht zugestanden wird. Treffpunkt bei einer neutralen Institution, dem Kinderschutzbund. Doch auf das erste Treffen mit Lukas warten die Großeltern immer noch. "Es tut sich einfach nichts", klagt Helga K. In vier Wochen wird ihr Enkel elf Jahre alt. Allzu gerne würden sie ihm an diesem Tag gratulieren. Die Geschenke zu seinem zehnten Geburtstag liegen heute noch in einer Ecke des Wohnzimmers – unausgepackt.

 

* Name der Redaktion bekannt