In: Der Kinder- und
Jugendarzt 33 (11): 885-889 und 33 (12): 984-990 Problematik kinderärztlicher
Atteste bei Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten – Mit Ergebnissen einer
Befragung
Walter
Andritzky
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund steigender
Scheidungszahlen, des nach dem neuen Kindschaftsrecht fortbestehenden
gemeinsamen Sorgerechtes und einer unbefriedigenden Rechtsposition unehelicher
Väter mehren sich Fälle, in denen Eltern versuchen, ein Kind dem anderen
Elternteil zu entfremden und diesen von Umgang und Erziehung auszugrenzen.
Kinderärztliche Atteste spielen in diesem ‚Rosenkrieg’ bei Jugendämtern,
Rechtsanwälten und Familiengerichten für die betroffenen Kinder eine oft
schicksalsträchtige Rolle. In einer schriftlichen Befragung von N=176
Kinderärzten (Rücklaufquote: 45,2%) aus sieben Großstädten wurden die Häufigkeit
von Attestwünschen, Inhalte der Bescheinigungen, gegebene Empfehlungen und ggf.
die Gründe dafür, warum der andere Elternteil nicht in die Befunderhebung
einbezogen wurde, untersucht. 80,2% der Befragten gaben an, dass sie im Jahr vor
der Befragung um entsprechende Atteste ersucht wurden, 82,2% davon (abs.116)
bescheinigten Erkrankungen oder andere Inhalte, und 75% von denjenigen , die
Atteste ausstellten, gaben an, den anderen Elternteil nie oder nur manchmal in
die Befunderhebung einzubeziehen. Die am häufigsten attestierten Störungen der
Kinder waren Infekte, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten,
Bauchschmerzen und Einnässen.
Anhand von Fallbeispielen und der Unterscheidung zwischen natürlichen
Trennungs- und Stress-Symptome der Kinder und solchen, welche durch
Entfremdungsabsichten eines Elternteils auftreten, werden
Qualitätskriterien für kinderärztliche Bescheinigungen im Rahmen von
Umgangs- und Sorgestreitigkeiten diskutiert.
Abstract
In the last decade,
increasing divorce rates, a joint custodial concept, and a deficient legal
situation of non-married fathers have been involuntarily provoking cases
of a parent with child custody alienating that child in order to exclude the
other parent from visitations and educational participation. Medical
certificates are frequently of fateful importance in child custody litigation.
In an mail survey conduced in six German cities, N = 176 paediatricians were
asked about the frequency in which they issue such certificates, what
certificates contained, what recommendations were made, and where possible the
reasons why the other parent was not included in the diagnostic process.
According to the results 80,2% of those surveyed were asked to issue such
medical certificates at least once in the year prior to the surevey; 75% of the
paediatricians stating that the other parent never or only sometimes
participated. The symptoms most frequently certified were infections, sleeping
and behavioural disorders, abdominal problems, and bed-wetting.
Outlining
the characteristics of alienated children and of alienating parents, of
‚natural‘ and of ‚induced‘ stress-symptoms in children after parental
separation, the article provides physicians and institutions of the health
system with support to prevent medical certificates being abused in child
custody litigation. Some fundamental guidelines are presented as to what aspects
and should be explored and which persons referred to before certificates are
issued to parents, social workers or judges of family law courts.
Einleitung
Wenn Kinderärzte gebeten
werden, einer Mutter oder seltener einem Vater ein ‚Attest’ über eine Erkankung
eines Kindes auszustellen oder anderweitige Sachverhalte zu ‚bescheinigen’, dann
sind ihnen aktuelle Trennungsstreitigkeiten der Eltern oftmals nicht bekannt
oder der Stellenwert einer solchen Bescheinigung im gerichtlichen Sorgerechts-
und Umgangsverfahren wird unterschätzt. Da die mit den eigenen Belastungen im
Gefolge einer Trennung/Scheidung beschäftigten Eltern die psychische Belastung
der Kinder oft weder wahrnehmen noch ihnen ausreichend Unterstützung/Zuwendung
zukommen lassen können, werden die natürlichen Stress- Symptome der Kinder bei
weiteren Konflikten zwischen den Eltern oftmals dahingehend umgedeutet, dass sie
Resultat einer negativen Beeinflussung oder ‚Überforderung‘ durch den Umgang mit
dem anderen Elternteil darstellen. Tatsächlich werden psychische und
funktionelle Reaktionen, Infekte und Schmerzzustände jedoch nicht nur durch die
Trennung selbst, sondern speziell dann ausgelöst, wenn das Kind von einem
Elternteil zum anderen wechseln soll und der betreuende Elternteil diesen Umgang
ablehnt, z.B. da das Kind ‚zur Ruhe kommen‘ soll (vgl. KLENNER 1995). Für den
mit einem Attestwunsch konfrontierten Kinderarzt ist es daher hilfreich,
zwischen den üblicherweise zu erwartenden Symptomen und solchen Attestwünschen
unterscheiden zu lernen, welche auf einer gezielten Entfremdungsabsicht und
einem entsprechenden Mißbrauch des Attestes im gerichtlichen Zusammenhang
beruhen.
Aufgrund des Umstandes, dass das deutsche Zivil- und Strafrecht
keine Regelungen enthält, welche die von Scheidung/Trennung betroffenen Kinder
wirkungsvoll davor schützen, von einem Elternteil - oft in Nacht- und
Nebelaktionen- aus ihrer gewohnten Umgebung verschleppt und anschließend vom
'anderen Elternteil' (aE) isoliert und entfremdet zu werden, konnten sich – wie
in den USA - unzählige Psycho- und Sozialtechniken entwickeln, um das Kind dem
aE abspenstig zu machen (vgl. CLAWAR & RIVLIN 1991), was häufig
psychosomatische Reaktionen aller Art nach sich zieht.
Die
Bedeutung des Themas ergibt sich auch aus dem hohen Anteil von Kindern, welche
nach Trennung/Scheidung den Kontakt zum nicht betreuenden Elternteil innerhalb
der ersten drei Jahre weitgehend verlieren: er liegt je nach Studie zwischen 20%
und 50% (BROWN 1994). Ein erheblicher Anteil von Vätern wird dabei per Wegzug
und Umgangsboykott gezielt ausgegrenzt (vgl. KLENNER 1995). Bemerkenswert ist
auch, dass vor dem Hintergrund eines rechtlich begründeten ‚Machtgefälles‘
zwischen Mutter und Vater eines unehelichen Kindes, wesentlich intensiver um das
Umgangsrecht als um das Sorgerecht gestritten wird und die Kinder stärker unter
diesen Umgangsstreitigkeiten zu leiden haben (KUNKEL 1997).
Um sich das
Konfliktpotential, von dem im weiteren die Rede ist, auch ‚mengenmässig‘
vorstellen zu können, zuerst einige statistische Werte: Vergegenwärtigt, man
sich, dass nur 6% der Ehepaare gemeinsam den Scheidungsantrag stellen, sich also
gemeinsam über das Scheitern der Ehe verständigt haben und die Trennung
begehren, 61% der Anträge von Frauen, jedoch nur 33%von Männern gestellt werden,
so legen schon diese Zahlen nahe, dass eine friedliche Einigung über den
Verbleib der Kinder eher selten sein wird. Von den 194.408 Scheidungspaaren in
der Bundesrepublik im Jahr 2000 hatten 48, 8% Kinder, - insgesamt
148
192 minderjährige Kinder waren damit von Scheidung betroffen (Stat. Bundesamt
VIIb 6.12 Geschiedene Ehen...). Nicht erfasst sind die Trennungen
nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften und die Zahl der nicht-sorgeberechtigten
Elternteile, denen bei der Scheidung das bisherige Sorgerecht auf ein
Umgangsrecht begrenzt wurde oder - meist Väter - die nie sorgeberechtigt
waren. Die Zahl der von Trennungen nicht-ehelicher Gemeinschaften betroffenen
Kinder lässt sich nur indirekt schätzen: Von insg. 627.917 Geburten waren im
Jahr 1998 25% (abs: 157.117) nicht-ehelich (Stat. Bundesamt 2000, S.71), d.h.
auch, dass die Mutter in aller Regel alleinsorgeberechtigt ist. Von den 2,1 Mio.
nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften haben 29% Kinder (Stat. Bundesamt, Mitt.
26.05.2000).
Vor diesem Hintergrund wurde eine Befragung von Kinderärzten
durchgeführt, welche erste Anhaltspunkte für weitere Studien zum Konfliktfeld
Atteste/Bescheinigungen in Sorgerechts- und Umgangsstreitigkeiten liefern
soll.
1. Ziel und Methode der Untersuchung
Ziel der Studie war es, einen
Überblick über die Verbreitung von Attestwünschen, die attestierten Inhalte und
Symptome, sowie den sozialen Kontext bei Sorgerechts- und Umgangsproblemen in
der kinderärztlichen Praxis zu
erhalten.
(a) Sample/Durchführung:
In sieben Großstädten wurden
insg. 389 Kinderärzte (Hamburg: 91, Dortmund: 32, Düsseldorf: 34, Köln:83,
Bonn: 22, Frankfurt: 45, München: 100) angeschrieben (Adressen aus
Telefonverzeichnis D-Info 2001 unter ‚Kinderheilkunde‘). Die Fragebögen wurden
brieflich mit Angabe eines Rücksendeschluss versandt, die nicht Antwortenden
dann ein weiteres Mal angeschrieben. Der Rücklauf betrug N= 176 auswertbare
Fragebögen (45,2%), sieben weitere Fragebögen enthielten Anmerkungen wie ‚Praxis
eingestellt‘, ‚verstorben‘, ‘im Ruhestand‘, oder waren leer.
(b) Das
Erhebungsinstrument: Es wurde ein einseitiger,
teilstrukturierter Fragebogen mit neun Fragen verwendet. Die Fragen waren:
-
‚Sind im Zusammenhang mit Umgangs- oder Sorgerechtsstreitigkeiten Eltern
mit der Bitte um Ausstellen einer Bescheinigung an Sie herangetreten (ja/nein;
wenn ja – wie oft?)
- Welche der der folgenden Inhalte wurden (ihrer
Erinnerung nach dabei) attestiert (Art der Erkrankung/Symptome; welche bei
bevorstehendem Umgangsterminen mit Vater/Mutter auftraten, welche ? -
Empfehlung, dass ein Umgang ausgeschlossen/eingeschränkt werden sollte ?
Anzeichen eines vermuteten sexuellen Mißbrauchs ? Empfehlungen zu stationärer
Behandlung ? zu kinderpsychologischer/psychiatrischer Behandlung ? - jeweils:
wie oft?)
- Wurde bei den Attestierungen der jeweils andere Elternteil
in die Befunderhebung/Anamnese einbezogen (regelmässig/manchmal/nie? –
ggf: warum nicht ?
- War die Institution bekannt, der das Attest vorgelegt
werden sollte ?
- Eigene Fallbeispiele, die in Erinnerung geblieben sind
?
Anmerkung zur Methodik: Da
ein Durchforsten der Patientenkarteien den Befragten aufgrund des Zeitaufwandes
nicht zumutbar war, wurden Schätzwerte (etwa, Ihrer Erinnerung nach) erbeten.
Diese dürften realitätsnah sein, da (1) die beschränkte durchschschnittliche
Zahl der Attestgesuche pro Jahr (5,8) das Gedächtnis nicht überfordert, (2)
diese Fälle aufgrund der oft vorhandenen Dramatik gut erinnert werden, und sich
(3) tatsächliche Abweichungen nach unten bzw. oben statistisch ausmitteln.
(c) Auswertung:
Als
statistische Kennwerte wurden absolute und relative Häufigkeiten sowie
Mittelwerte berechnet, die Antworten auf die offenen Fragen in Kategorien
zusammengefasst, welche auf den wörtlichen Antworten beruhen (Attestierte
Symptome; Gründe, warum der andere Elternteil ggf. nicht regelmässig in die
Befunderhebung nicht einbezogen wurde).
2. Ergebnisse
(a) Anzahl von
Attestgesuchen: Insg. gaben 80, 2 % (abs.
141) der befragten Kinderärzte an, im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit
Umgangs-/Sorgerechtsstreitigkeiten wenigstens ein Mal um die Ausstellung von
Attesten gebeten worden zu sein (Min.: 1; Max.: 50; Mittelwert: 5,8 Mal/Jahr).
Bei einer Gesamtzahl von 5798 niedergelassenen Vertragskinderärzten in der
Bundesrepublik (Bundesarztregister der KBV, 31.12.2000) ergibt dies
hochgerechnet eine Zahl von 26.970 Attestgesuchen/Jahr. Vorausgesetzt ist dabei,
dass das Sample repräsentativ ist, was aufgrund der Auswahl der Großstädte in
den alten Bundesländern evtl. eingeschränkt ist (Die Scheidungs,
-Trennungshäufigkeit liegt in ländlichen Gebieten evtl. niedriger).
(b) Anzahl ausgestellter
Atteste/bescheinigte Erkrankungen/Inhalte: Krankheitsbezeichnungen oder
andere Inhalte wurden von n=116 der Befragten, d.h. 82,2 % von denjenigen,
welche um Atteste ersucht wurden (n=141), tatsächlich attestiert (insg. 258
Nennungen). 14% (abs.25) der um ein Attest angefragten Ärzte verweigerten
demnach die Ausstellung.
Tab. 1 gibt die Rangfolge der Häufigkeit der genannten
Krankheitsbezeichnungen wider, wie sie im Fragebogen benannt wurden.
Tab.1 In
kinderärztlichen Attesten angeführte Inhalte/Symptome (n= 116)
(Frage: welche Inhalte wurden
Ihrer Erinnerung nach attestiert?)
Mehrfachnennungen möglich) | Abs. | Rel.(%) |
(akute, banale, fieberhafte) Infekte | 39 | 33,6 |
Ein- und/oder Durchschlafstörungen | 26 | 22,4 |
Verhaltensauffälligkeiten/ Aggressivität | 25 | 21,6 |
(diffuse, Trennungs-) Ängste, Unruhezustände | 24 | 20,7 |
Bauchschm./Abdominalbesch.,Durchfall/Erbrechen/Übelkeit | 24 | 20,7 |
Einnässen, -koten | 21 | 18,1 |
Husten/ Asthma/ Bronchitis/ Infekte der oberen Atemwege | 11 | 9,5 |
Psychosomatische Erkrankungen | 10 | 8,6 |
Kopfschmerzen/ Migräne | 9 | 7,8 |
Schulprobleme, -verweigerung | 6 | 5,2 |
Hautinfekte, Neurodermitis(schub) | 4 | 3,4 |
Varicellen | 4 | 3,4 |
Ohrentzündungen, Otitis | 4 | 3,4 |
(Schürf-)Wunden an Kopf, Händen | 2 | 1,7 |
Schwindel | 2 | 1,7 |
Nägelkauen | 2 | 1,7 |
Je einmal wurden genannt: Allergie (durch Haustiere), Hämatome,
Eßstörungen, Kopfläuse, Unterernährung, Suizidandeutungen, notwendige OP,
Vulvitis, Nägelkauen, Kreislaufschwäche, Hyperaktivität,
Verlassenheit/Verstörtheit, mangelnde Gesundheits-/Pflegezustand,
Kinderpsychiatrische Erkrankungen, nächtliches Aufschreien/Weinen,
Nervosität/Labilität, psychische Alteration/Entwicklungsrückstand,
Wahrnehmungsstörung, körperliche Gewaltanwendung, Unruhe im
Kindergarten.
Weitere Inhalte von Bescheinigungen: Ausschluss ‚battered
Child‘/Mißhandlung/Miß-brauch (2), zuverlässige Fortsetzung einer laufenden
Therapie, ‚Mütter unterstellten den Partnern sexuellen Mißbrauch‘, ‚dass alle
Vorsorgen und Impfungen wahrgenommen wurden‘ (3), notwendige Operation,
‚dass das Kind nicht krank ist‘ (2), (altergemässer) Entwicklungsstand (2),
‚Notwendigkeit des Stillens.lange Trennung von Mutter nicht möglich‘,
‚Erziehungsprobleme bei Müttern, wenn das Kind über’s Wochenende beim Vater
war‘, Vernachlässigung während des Kontaktes, ‚Erkrankungen bei bevorstehenden
Besuchen‘, Infekte nach Besuch beim Vater‘, Ängste vor Kontakt mit dem
Vater‘,‚Weigerung, den Vater zu sehen‘.
Wenn wir die immunsuppressiven
Effekte von Stress berücksichtigen, der durch Elternstreit und Trennung für die
betroffenen Kinder entsteht, dann kann die Mehrzahl aller Symptome als
psychoreaktiv bezeichnet werden.
(c) Symptome vor Umgangsterminen: n=105 der Befragten nahmen
Eintragungen bei dieser Frage vor, d.h. 74% derjenigen, welche um ein Attest
nachgefragt wurden (n=141) bzw. 90,5% von denjenigen, welche tatsächlich ein
Attest ausgestellten (n=116). Insg. wurden 230 Mal Krankheitsbezeichnungen oder
andere Inhalte vor anstehenden Umgangsterminen benannt. Tab. 2 gibt die
Rangfolge der Häufigkeit der genannten Krankheitsbezeichnungen und anderen
Inhalte wieder.
Tab.2 Symptome bei bevorstehenden Umgangsterminen mit Vater/Mutter
(n=105)
(Frage: Welche Symptome traten Ihrer Erinnerung nach bei bevorstehenden Umgangsterminen mit Vater/Mutter auf?)
Mehrfachnennungen möglich) | Abs. | Rel.(%) |
Ein- und/oder Durchschlafstörungen | 33 | 31,4 |
Verhaltensauffälligkeiten/ Aggressivität, `emot. Störungen` | 32 | 30,5 |
Bauchschmerzen, Durchfall/Erbrechen/Übelkeit | 30 | 28,6 |
diffuse, Trennungs-) Ängste, (motor.) Unruhe | 29 | 27,6 |
akute, banale, fieberhafte) Infekte | 29 | 27,6 |
Einnässen | 21 | 20,1 |
Verweigerung/Angst zum Vater zu gehen/ Verhaltensänderung nach dem Besuch | 10 | 9,5 |
Depression, Rückzugsverhalten | 7 | 6,7 |
Husten/ Asthma | 7 | 6,7 |
Eßstörungen | 5 | 4,8 |
Schulprobleme | 5 | 4,8 |
Hautinfekte/ Neurodermitisschub | 4 | 3,8 |
Je einmal wurden genannt: Herzrasen, Kopfläuse, Hämatome, Verletzungen, Nabelkoliken, unsensibler Umgang des Vaters‘, ‚Kontaktarmut, kein Interesse am Spielzeug, Vermeidungsverhalten; ‚Aufenthalt in Gasthäusern/Kneipen, zu spät in’s Bett, behauptete Vernachlässigung, Verwahrlosung, Hyperaktivität, Selbstwertproblem, autistische Züge, ‚aus psychischen Gründen nicht verhandlungsfähig‘,
(d) Weitere
Inhalte/Empfehlungen von Attesten: Von denjenigen Ärzten, welche
um ein Attest gefragt wurden (n=141) wurde eine Empfehlung zur Einschränkung des
Umgangs mit dem anderen Elternteil wenigstens einmal von 61, 7 % (abs. 87;
Mittelwert 2,9 Mal/Jahr; Min: 1; Max: 50) der Befragten, gegeben (bezogen auf
diejenigen, welche tatsächlich ein Attest ausstellten (n=116) waren es 75%).
Hochgerechnet auf die Vertragskinderärzte in der BRD (5798) (vgl. a)
ergäbe dies eine Anzahl von 8289 Empfehlungen zur
Umgangsbeschränkung.
Zu stationärer Behandlung wurde von 12, 0 %
(abs. 17; Mittelwert 1,7 Mal/Jahr) bzw. 14,6% und zu
kinderpsychiatrischer/psychologischer Behandlung von 73, 0% (abs. 103;
Mittelwert 3,5 Mal/Jahr) bzw. 88,7% eine Empfehlung gegeben. Anzeichen eines
sexuellen Mißbrauchs wurden von 29,7% (abs. 42; Mittelwert 1 Mal/Jahr)
bzw. 36,2% wenigstens ein Mal attestiert.
(e) Einbeziehung des anderen Elternteils in die
Befunderhebung/Anamnese: Der andere Elternteil wurde
von 83, 6% (abs. 118) derjenigen Befragten, welche um ein Attest angefragt
wurden (n=141), ‚nie‘ oder nur ‚manchmal‘ in die Befunderhebung mit einbezogen.
Die Begründungen für diesen Umstand werden in acht Gruppen eingeteilt und der
Rangfolge der Häufigkeit nach dargestellt (Tab. 3).
Tab.3 Gründe für Nicht-Einbeziehen des anderen Elternteils
(n=118)
(Frage: Wenn `manchmal/nie`angekreuzt, warum nicht?)
(Mehrfachnennungen möglich)
Abs.
Rel.(%)
Mehrfachnennungen möglich) | Abs. | Rel.(%) |
1. Kein Kontakt
(-versuch), `tauchte nicht/nie auf`, |
46 | 39,0 |
2. Kein Zugriff auf
den aE`, `nicht erreichbar`, `nicht aktiv |
20 | 16,9 |
3. Nur ein Elternteil
kommt (Elternstreit, Alleinaktivität der |
18 | 12,8 |
4. Entfernter Wohnort | 13 | 9,2 |
5. Einbeziehung des aE vom betreuenden Elternteil abgelehnt | 6 | 5,1 |
6. ‘Auflistung
von Befunden ohne Wertung bezüglich Umgangsrecht‘, ‚weil der klinische
Befund schon eindeutig ist, |
6 | 5,1 |
7. Zu aufwendig
im Praxisalltag, ‚eigene Bequemlichkeit‘, |
5 | 4,2 |
8. Rechtliche Gründe (Kein Sorgerecht, Hauptsorgeberechtigter stellt sich vor, es liegt kein richterliches Begehren vor, `ich bin kein Richter`) |
4 | 3,4 |
Fasst man die Gruppen 1 und 3 zusammen, so besteht die Begründung
überwiegend darin, dass der andere Elternteil kein aktives Interesse zeigt oder
es wird als selbstverständlich angenommen, dass nur ein Elternteil (meist die
Mutter) zum Arzt kommt. Die Gruppen 1 und 4 und 6 deuten auf Hinderungsgründe
für ein aktives Einbeziehen durch die Befragten hin. Nur wenige Befragten
begründen das Nicht-Einbeziehen des anderen Elternteils mit der ‚Objektivität‘
des Befundes, dem rechtlichen Rahmen oder der Ablehnung durch den Elternteil,
der das Attest wünscht (5,6,8).
(f) Gründe bei
Attestverweigerung:
Auf 13
Fragebögen befanden sich Anmerkungen, dass aus verschiedenen Überlegungen
heraus, den Attestwünschen nicht nachgegeben wird. Diese wurden in fünf Gruppen
gefasst:
1. Grundsätzliche Ablehnung (‚wurde gewünscht, aber nicht
ausgestellt‘; ‚solche Atteste stelle ich grundsätzlich nicht aus‘; Gesuche nach
Attesten Vater/Mutter versorge das Kind ‚nicht richtig‘ werden grundsätzlich
abgelehnt‘)
2. Verweisungen (‚gebe keine Empfehlung, sondern verweise auf den
betreuenden Rechtsanwalt‘; ‚nur wenn das Gericht mich auffordert, nicht für den
Anwalt‘; ‘an das Gericht zurückverwiesen‘)
3. Konfliktvermeidung
(‚schreibe keine Atteste, da sich später Väter verärgert melden mit ganz anderer
Sicht‘; ‚halte mich aus den Scheidungskriegen heraus‘)
4. Nach Angabe bzw.
mit beiden Eltern ( ‚Bescheinigungen nur über aktuelle Erkrankungen in
Absprache mit beiden Eltern‘; ‚Nur mit Zusatz ‘nach Angabe der Mutter‘)
5.
Inhaltliche Begründung (‚bei systemischer Sicht muß das ganze System gesehen
werden‘; ‚ich gebe keine Empfehlung gegen Besuchsrechte ab, da aus Symptomen
nicht auf Verursachung geschlossen werden kann, der Wahrheitsgehalt ist nicht
überprüfbar‘)
- ‚Leistungen in Bezug auf Scheidungs-,
Sorgerechts- und Umgangsangelegenheiten sind nicht Bestandteil der
Leistungserstattung der gesetzlichen Krankenversicherung. Glauben Sie auch, dass
nur ein Elternteil diese umfangreichen Leistungen privat bezahlt‘?
- ‚Ich
werde häufig mit Kinderproblemen in Zusammenhang mit Elterntrennung konfrontiert
und um Rat gebeten. Ich verweise
recht häufig auf Beratungsstellen, um schriftliche Atteste werde ich selten
gebeten....Mache das äusserst ungern, da ich mich nicht in der Lage sehe, in
diesen Elternkonflikt wirklich hinein zu schauen‘.
– ‚Bettnässen eines
2,5-jährigen Mädchens, das zuvor trocken war, jedesmal wenn es vom Vater kam.
Dieser hatte nach Berichten von Mutter unverschlossen ‚Porno-Videos‘ überall
herumliegen und bestand darauf, regelmässig mit seiner Tochter baden zu
dürfen‘.
- ‚Regelmässig zur Unterstützung von anwaltlichen Argumentationen vor dem
Familiengericht‘
- ‚Ich habe in diesem Zusammenhang nie
Atteste ausgestellt, sondern die Eltern jeweils gebeten, die Probleme
untereinander zu klären mit Hilfe des Jugendamtes oder Anwälten‘.
- ‚Wir
versuchen uns möglichst nicht in
Sorgestreitigkeiten einspannen zu lassen und verweisen im Zweifel an Kinder- und
Jugendpsychiater‘.
- ‚Attest, dass Sturz vorlag und keine
Fremdeinwirkung‘.
- ‚Die Symptomatik wurde diagnostiziert,
jedoch nicht attestiert, da Atteste dieser Art von uns nicht ausgestellt werden,
weil ein Arbeitsbündnis mit allen Beteiligten (beide Elternteile) im Sinne des
Kindes sonst nicht möglich ist‘.
- ‚Es werden keine Gutachten in unserer
Praxis erstellt- Bescheinigungen nur über aktuelle Erkrankungen in Absprache mit
beiden Eltern‘.
- ‚Mutter zog nach Süddeutschland in anthroposophische
Gemeinschaft. Dortige Kinderärzte stellten Gesundheitsschäden bei Umgang mit
Vater fest, dieser fuhr
einmal/Monat hin und besuchte die Tochter für einige Stunden ausserhalb
der Wohnung. Besuche hier wurden erst möglich...nachdem ich Unbedenklichkeit
attestierte. Meine Versuche mit Mutter
oder Kinderärztin Kontakt zu bekommen, blieben ohne Erfolg'.
- ‚Es
wurden immer Symptome durch Untersuchung objektiviert und keine
Gefälligkeitsatteste ausgestellt‘.
– ‚Die Ehe ging nach der Geburt zu
Bruch. Das Kind blieb bei der Mutter, der Vater bemühte sich um ein
Zugangsrecht, die Mutter versuchte dieses um jeden Preis zu verhindern. Sie liess sich
fieberhafte Infekte bescheinigen und nutzte diese Bescheinigungen, den
elterlichen Zugang seitens des Vaters zu behindern. Er suchte dann telefonisch
und persönlich um Auskunft bei mir nach, die ich selbstverständlich erteilte,
was dazu führte, dass sich die
Eltern um die Interpretation meiner Bescheinigung wechselseitig beharkten. Beide
Seiten versuchten mich unter Druck zu setzen. Dabei hatte ich durchaus Kontakt
zum Jugendamt. Ich habe auf die Mutter eingewirkt, dass sie vorwiegend das
Kindesrecht und nicht ihr eigenes
im Auge haben solle. Am Anfang sah ich in der Mutter den eher
schutzbedürftigen Elternteil. Ich habe in diesem Fall lernen müssen, dass aber
gerade diese Person jede zumutbare Lösung verhinderte...‘
- ‚Einmal Vater
in Sekte, setzte Mutter laufend unter Druck‘
-
‚Bescheinigung wurde nicht ausgestellt,
aber häufig die Bitte etwas zu bescheinigen‘
- ‚Attest wurde abgelehnt, zunächst
familientherapeutische Beratung empfohlen‘.
- ‚Kind lebt bei Mutter in
Köln, soll alle 14 Tage am Wochenende nach Bremen zum Vater, bekommt dort
regelmässig Asthma-Symptome (Raucher-,Hauskatzenallergie)‘
-
‚Drillingsfrühchen ...Belastungen nur für die Mutter, Vater nur bei Wohlbefinden
zu Umgangsterminen bereit – angeblicher sexueller Mißbrauch zweier Töchter durch
Vater, dieser selbst fast Hysteriker, jähzornig, und eifersüchtig, nach
kinderpsychiatrischer Intervention inzwischen wieder Kontakt zu einer Tochter,
die andere verweigert‘.
- ‚Jeder Kinderarzt sollte sich hüten
parteinehmende Atteste für ein Elternteil (zumeist Mütter) auszustellen. In der
Regel kann er die genauen partnerschaftlichen Probleme nicht kennen. Diese
Problematik muss den Verantwortlichen unbedingt klar gemacht werden. Ich habe
nur in einem Fall aktiv eingegriffen, damit der psychotischen Mutter das
Sorgerecht entzogen wurde, die ihre beiden kleinen Kinder sexuell
mißbrauchte‘.
- ‚Meist kommen Anfragen, ich solle bescheinigen, dass der
Vater (Mutter) das Kind nicht richtig versorge oder Kinder werden mit
unauffälligen Hämatomen vorgestellt, um Mißhandlungen nachzuweisen. In diesen
Fällen verweigere ich mich‘.
3. Diskussion
Die Befragung ergab, dass
4/5 der Kinderärzte im Jahr vor der Befragung mit Attestwünschen im Zusamenhang
von Umgangs- und Sorgestreitigkeiten konfrontiert waren, die attestierten
Symptome überwiegend psychoreaktiver Natur sind, 60% der Befragten wenigstens
einmal eine Umgangseinschränkung empfahl und 4/5 der Befragten den jeweils aE
nicht oder nur manchmal in die Befunderhebung bei Attestwunsch
einbeziehen.
Um die eingangs aufgeworfene Bewertungsproblematik bei
Attestwünschen handhabbar zu machen, werden zunächst im Gefolge von
Trennung/Scheidung natürlicherweise auftretende Symptome erörtert und
anschliessend Verhaltensweisen eines Kindes, wenn Entfremdungs-absichten
vorliegen, welche mit einer entsprechenden ‚Bescheinigung’ verschiedener
Symptome des Kindes oder von Verhaltensweisen eines Elternteils befördert werden
sollen..
a)
Stadium und typische Konfliktlage des Trennungsprozesses (nach SCHMITT
1991:22ff):
- In der Ambivalenzphase wächst bei zunehmender
Konflikthaftigkeit die Tendenz, den Partner für die schwindende
Beziehungsqualität verantwortlich zu machen, anzugreifen, zu verletzen. Für das
Kind führt diese, sich ggf. über Jahre hinziehende Phase zu wachsendem
Unsicherheitsgefühl und Angst vor Verlassenwerden. Andererseits wird das Kind in
Koalitionen zwischen Kindern und Elternteilen eingebunden, es kann zur
emotionalen Stütze, zum temporären 'Ersatzpartner, Kummerkasten, Geheimnisträger
oder Vermittler' werden.
- In der Trennungs- und Scheidungsphase, die
bis zum Scheidungsurteil reicht, ist das Ausmass des Stress abhängig vom Fehlen
oder Vorhandensein eines sozialen Unterstützungssystems. Gelingt keine
Neudefinition der Eltern- und Partnerrolle, dann gehen die Auseinandersetzungen
über die Distanz weiter. Wird dem Kind keine eigene Mitwirkungsmöglichkeit beim
Kontakt zum an deren Elternteil gegeben, wird dieser idealisiert und
mythifiziert, ggf. kommt es zu Ausgrenzungsbestrebungen mit der Folge eines
‚elterlichen Entfremdungssyndroms‘ beim Kind.
- In der Nachscheidungs-
bzw. Trennungsphase kommt es zu Desillusionierung über die vorgestellten
Erleichterungen und Vorteile der Trennung, das Alltagsleben muss ggf. alleine
bewältigt, erhebliche finanzielle Einbussen und Verlust sozialer Kontakte
hingenommen werden. Für beide Eltern bestehen nun massive Belastungen: Wohnungs-
und finanzielle Probleme, Aufspaltung des Bekanntenkreises, Angst vor
Alleinesein und Verlust des Kindes, Verhaltensauffälligkeiten des Kindes,
Beantwortung von Anwalts- und Gerichtsschreiben, Wegfall supportiver Leistungen
des Partners etc. (KUNKEL 1997:25). Für das Kind sind nun Abwertungen des aE
('Du bist genau wie dein Vater') schädlich, da es seine Identität und sein
Selbstwertgefühl untergraben. Wenn es jetzt nach Besuchen beim aE 'verändert
oder verstört wirkt...ist es vor allem das Wiederbewußtwerden der
Trennungssituation, das diese Verstörtheit bewirkt; denn das Wiedersehen des
einen bedeutet auch gleichzeitig Abschied vom anderen'. Oft muß das Kind eine
Front durchqueren, 'eine Brücke schaffen zwischen zwei feindlichen Lagern', auf
beiden Seiten ist es nun den negativen Gefühlen der Eltern füreinander
ausgeliefert (1991:33).
Die
Symptombelastungen (nach: Marburger Verhaltensliste) sind phasenabhängig:
SCHMIDT-DENTER (1997:59) fand zum Trennungszeitpunkt 54% 'verhaltensauffällige
Kinder', 15 Monate später 40% und weitere 15 Monate später noch 30%. Der Typ der
Hochbelasteten, welche keine Symptomabnahme zeigen, lag bei 48%, die sog.
'Belastungsbewältiger' bei 34% und die gering Belasteten, symptomfreien bei 18%.
Die Störungen beziehen sich auf emotionale Labilität, Kontaktangst,
unrealistisches Selbstkonzept, unangepaßtes Sozialverhalten und instabiles
Leistungsverhalten. Die Symptombelastung erwies sich bei Jungen und Mädchen als
gleich, sie ist im Vor- und Grundschulalter am intensivsten, wenn die Kinder die
familiären Spannungen zwar registrieren, aber weder verstehen noch verarbeiten
können, sie neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben. Mädchen binden sich in
der Trennungszeit stärker an die Mütter als dies Jungen tun, - die
gleichgeschlechtlichen Bindungen werden verstärkt. Während die Eltern ihre
soziale Bezugsgruppen ändern, bleibt die alte Kernfamilie in der Vorstellung der
Kinder bestehen, sie möchten beide Eltern 'wieder zusammen' sehen. Neue Partner
werden entsprechend 'nur sehr zögernd akzeptiert'.
Häufigste Symptome, die
bei Kindern nach Scheidung zum Aufsuchen von Ärzten und Kinderpsychiatern
führen, sind nach FIGDOR (1997:60) Einnässen, Unruhe, Schlaflosigkeit,
Diebstähle, Disziplinprobleme, Leistungsabfall in der Schule, verstärkte
Abhängigkeit und/oder sozialer und emotionaler Rückzug; Magen- und
Kopfschmerzen, 'bei fast allen Kindern ist ein deutlicher Anstieg des
Aggressionspotentials zu bemerken, das sich in Form von Ärger und Wut an einem
oder beiden Elternteilen oder auch an anderen Kindern entlädt'. Funktion solcher
Symptome mag es auch sein, dass sich die Eltern in der Sorge um das Kind wieder
verständigen, da die meisten Kinder eine Wiederversöhnung herbeiführen
wollten.
b) Alters- und geschlechtsabhängige Reaktionen auf Trennung (nach
FTHENAKIS (1995):
- Von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr:
'Nachtangst', Einschlafschwierigkeiten, Aufwachen in der Nacht mit
Desorientierung, Hilferufen; bei institutionmeller betreuung schlechter Qualität
auch generelle Retardierung im sprachlichen Bereich, vermindertes Interesse an
Spielzeug, sozialen Kontakten.
- Zweites und drittes Lebensjahr: Regressionen (Rückschritte in der
Sauberkeitserziehung, Puppen als Ersatzobjekte; Irritierbarkeit, Weinen;
allgemeine Angstzustände, gesteigerte Aggressivität und trotz, vermehrtes
verlangen nach Körperkontakt in Verbindung mit schneller Hinwendung zu
Fremden.
- Drittes bis fünftes Lebensjahr: Aggressiv-destruktives Verhalten,
vermindertes Selbstwertgefühkl, Weinerlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Einsamkeit,
Selbstbeschuldigungen wegen des Auseinanderbrechens der Familie. Bei Jungen:
heftigere, unmittelbare Reaktionen; bei Mädchen: Angst- und Rückzugsverhalten,
Depression, 'pseudoerwachsenes, auch gehemmtes und rechthaberisches
Verhalten.
- Fünftes bis sechstes Lebensjahr: Ängstlichkeit,
Ruhelosigkeit, Wutanfälle, zwanghaftes Essen, abhängiges Verhalten.
Irritierbarkeit und Weinen.
- Siebtes und achts Lebensjahr:
Anhaltende Trauer als Reaktion auf Trennung, gefolgt von Resignation; Auflösung
der Familie wird als Existenzbedrohung erlebt; Beeinträchtigung der schulischen
Leistung, Loyalitätskonflikte, Wunsch nach Wiedervereinigung der
Familie.
- Neuntes bis dreizehntes Lebensjahr: Psychosomatische
Störungen, Pseudoreife, intensiver Zorn auf den Elternteil, der als Initiator
der Scheidung angesehen wird, Identitätsprobleme, Gefühl von Einsamkeit und
Ohnmacht.
- Vierzehntes bis neunzehntes Lebensjahr: Zorn, Trauer,
Schmerz; Gefühl, verlassen und betrogen worden zu sein; abrupte und destruktive
Lösung vom Elternhaus, Vermeidung von Kontakten mit den Eltern, Zweifel an der
Fähigkeit, eine positive Partnerbeziehung eingehen zu
Bei denjenigen Kinder, welche keine Reaktionen zeigen, sondern 'ruhiger
und braver werden', handelte es sich um 'Kinder mit einer neurotischen
Anpassung...häufig verbunden mit deutlichen Anzeichen einer künftigen
depressiven Entwicklung' (1997:65). Grundsätzlich seien die Scheidungssymptome
keine neurotischen Zeichen, wenn man den Kindern erlaube, ihre Wut angstfrei
auszudrücken und ihre Ängste anzunehmen. FIGDOR (1997) betont, bei seinen
Untersuchungen sei man keinem Kind begegnet, das 'durch den Weggang des Vaters
sich ausschließlich befreit fühlt und der Trennung auch keine größere
Konfliktbelastung zur Mutter folgt'.
c) Symptome bei Entfremdungsanliegen
des betreuenden Elternteils (nach GARDNER 1998):
Bei Kindern, die gezielt
vom Umgang mit dem anderen Elternteil ausgegrenzt werden sollen, finden sich
acht Merkmale, deren Kenntnis die Einschätzung erleichtert, ob das Attest ggf.
mißbräuchlich im 'Kampf um's Kind' verwendet werden soll, - insbesonders dann,
wenn dem Arzt die Familienverhältnisse nicht bekannt sind:
- Eine
Abwertungs- bzw. Verleumdungs-Kampgane (campaign of denigration): der andere
Elternteil wird herabgesetzt, entwürdigt, die Argumente klingen wie eine
zwanghaft vorgetragene Litanei, wobei das Kind auch von selbst 'unglaubhafte'
Dinge hinzufügt. Die Ablehnungskampagne äussert sich auch darin, dass die Kinder
z.B. Geschenke wieder zurück ins Haus des an deren Elternteils bringen, so als
ob sie verunreingend wären.
-
Schwache, absurde oder lächerliche Rationalisierungen für die Abwertungen
(weak, absurd, or frivolous rationalizations for the deprecation): Es
handelt sich hier um triviale Inhalte, die ein Kind normalerweise schnell
vergisst (z.B.: 'Er sprach immer sehr laut und sagte ich sollte meine Zähne
putzen' - 'Sie hat immer zu mir gesagt 'unterbrich mich nicht'). Die
Kinder können darüberhinaus meist keine Gründe für ihre ablehnende Aussage
angeben ('Ich werde immer krank beim Papa' - erzählt dann wie schön es dort
ist). Es werden Begriffe verwendet, deren Bedeutung das Kind bei Nachfragen
nicht kennt, z.B. 'Er ist ein XX' (Was ist ein XX?) 'Weiss ich nicht' oder 'das
hat die Mama gesagt'.
- Fehlen von Ambivalenz (lack of ambivalence): Es
besteht eine ‚gespaltene Welt‘,
beim betreuenden Elternteil ist 'alles gut', beim anderen 'alles
schlecht'. Auf die Testfrage 'was findest du gut bei xx' antwortet das Kind dann
'Nichts', auf die zweite Testfrage 'was findest du gut beim yy?': Alles!
-
Das 'unabhängige Denker-Phänomen' (The 'independent thinker' phenomenon): Die
Kinder betonen, den an deren Elternteil nicht sehen zu wollen, sei 'ihr Wille'
('das ist meine Entscheidung, niemand hat mich beeinflusst'). Der betreuende
Elternteil äussert stereotyp z.B.: 'Wenn er/sie will, kann er/sie
selbstverständlich zu xx';
- Reflexartige Unterstützung des entfremdenden
Elternteils im Konflikt (reflexive support of the alienating parent in the
parental conflict): Kinder äussern in Familiengesprächen reflexartig ihre
Unterstützung für den entfremdenden Elternteil, z.B. sagt eine Mutter 'Wir
bekommen überhaupt kein Geld von ihm'. Wenn dann Schecks und Überweisungsbelege
vorgelegt werden, antwortet das Kind z.B. 'das ist alles gefälscht'.
- Fehlen
von Schuldgefühlen wegen Grausamkeit oder Ausbeutung (absence of guilt over
cruelty to and/or exploitation of the alienated parent): Gefühle der Dankbarkeit
für Geschenke oder andere Liebesbeweise fehlen. Der Vater solle nur alles
zahlen, aber man wolle ihn nicht sehen, 'das ist eine gerechte Strafe für ihn'
(GARDNER 1998:100).
- Geborgte Szenarien (borrowed scenarios): Diese Aussagen
der Kinder werden oft mit nicht kindgemässer Sprache vorgetragen. Wenn der Vater
anruft, sagt die Mutter 'Stör uns nicht' und legt auf. Das Kind äussert dann auf
die Frage, warum es nicht zum Vater will: 'Er stört uns immer'. Oder: 'Ich habe
immer schlechte Träume, wenn ich beim Papa war'. Auf die Frage, welche Träume
das waren: 'Ich weiss nicht, meine Mutter sagt, dass ich sie habe'. Die Sprache
ist nicht kindgemäss, wenn z.B. ein 6-jähriger über den Vater sagt: 'Er hat
diesen Machtkomplex'. Oder: 'Du bist nur der Samenspender!' Oder: 'Er ist nicht
sicherheitsbewusst'. Eine 4-jährige sagt: 'Er hat mich penetriert'. Was
penetrieren bedeute? 'Das weiss ich nicht'.
-
Erweiterung der Feindseligkeit auf Freunde und Familienmitglieder des anderen
Elternteils
(Spread of the animosity to the friends and/or extended family of the
alienated parent): Familienmitglieder des ausgegrenzten Elternteils, mit
denen das Kind zuvor gute Beziehungen hatte (u.a. Cousinen, Onkel, Großeltern)
werden in die Ablehnung einbezogen, Geschenke werden zurückgewiesen, bei
Anrufen hängt das Kind mit Abwertungen auf.
Diese Reaktionen finden
sich nicht bei Kindern, welche tatsächlich schwerwiegende Gründe haben, einen
Elternteil abzulehnen. In Abgrenzung zu den häufigen Loyalitätskonflikten, die
Kinder in Trennungsprozessen zeigen, treten die Merkmale des
Entfremdungssyndroms meist dann auf, wenn Scheidungsstreitigkeiten in
Sorgerechtsstreitigkeiten übergehen oder wenn sich eine ‚neue Familie’ bildet
und der andere Elternteil endgültig ausgegrenzt werden soll (vgl. WARSHAK 2000).
Diese Sachverhalte lassen sich im ärztlichen Gespräch mit wenigen Fragen
klären.
Wie häufig sind Entfremdungsanliegen zu erwarten? Für Deutschland
liegen noch keine Untersuchungen vor, in den USA sind es bei hochstreitigen
Scheidungen 30-45% der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren, welche sich gegen einen
Elternteil wandten, ohne dass dafür Gründe im Verhalten dieses Elternteils
feststellbar waren (JOHNSTON & CAMPBELL 1988; LAMPEL 1986, 1996).
d)
Zum Umgang mit Eltern mit ‚Attestwunsch‘
Exemplarisch für die
involvierten Gesundheitsberufe beschrieb bereits im Jahr 1932 der
Psychoanalytiker AICHHORN (1974:28) den 'Kampf ums Kind' und das geeignete
Verhalten des 'Erziehungsberaters': 'Der Erziehungsberater wird oft um
Vermittlung ersucht, wenn in unglücklichen Ehen, bei in Scheidung begriffenen
oder geschiedenen Eltern jeder Elternteil das Kind für sich beansprucht. Erkennt
der Erziehungsberater nicht, dass der manchmal mit größter Brutalität und
Rücksichtslosigkeit geführte Kampf ums Kind nur bezweckt, den anderen Elternteil
schwer zu treffen, so wird sein Eingreifen erfolglos verlaufen. Durchschaut er
aber die Situation sofort, so wird es zu einer vergeblichen Arbeit nicht kommen
Er legt von Anfang an seinen Standpunkt als Anwalt des Kindes den Eltern
gegenüber fest. Diese lehnen ihn dann entweder sofort ab oder fügen sich, und er
kann das für das Kind Notwendige veranlassen'.
Auf eine ebenso treffende
Formel brachte DOLTO (1990: 52) das Ansinnen auf ärztliche Atteste im Sorge- und
Umgangsstreit, wenn sie schreibt: 'Ein Arzt, der ein Attest ausstellen soll, hat
die denkbar beste Gelegenheit, dies nicht zu tun, sondern statt dessen mit dem
Kind darüber zu sprechen, was sein Symptome ausdrücken sollen. Er könnte aber
auch ein Attest ganz anderer Art ausstellen:...:'Hiermit bescheinige ich, dass
das Kind mir erzählt, dass es sehr aufgeregt ist, wenn es seinen Vater sieht,
und dass ihm das den Magen umdreht....Es erbricht aber nicht etwa, weil es
einen Vater nicht liebhat, sondern, weil es völlig durcheinander ist, wenn es
ihn nach so langer Zeit wiedersieht '.
Die Reaktionen entstünden vor
allem dann, wenn 'die Mutter die Beziehung des Kindes zu ihrem Exgatten auf eine
Weise arrangiert, die dem Kind den Übergang vom einen zum anderen erschwert,
wodurch es zu Störungen im vegetativen System des Kindes kommt. Es gerät
innerlich durcheinander, wenn die Mutter ihm den Vater als gleichgültig oder gar
gefährlich schildert...' Das Kind würde dieselben Symptome zeigen, wenn es
beim Vater lebte und die Mutter nur selten sähe, 'denn dieses Phänomen ist von
der Situation abhängig, nicht von den beteiligten Personen'. Grundsätzlich wäre
es zur Vorbeugung gegenüber dem Mißbrauch von Bescheinigungen empfehlenswert,
sich jeweils den Hintergrund und Verwendungszweck eines Attestes eingehend
erläutern zu lassen.
e) Qualitätsmerkmale
für Bescheinigungen/Atteste
Im Sinne einer Qualitätskontrolle
scheint es ansichts der skizzierten Problemlage ratsam:
- sich über
den situativen Zusammenhang (z.B. Scheidung, Trennung, Sorge-,
Umgangs-streitigkeiten) einer Erkrankung zu informieren,
- sich den Zweck
gewünschter Bescheinigungen eingehend erläutern zu lassen,
- sie ggf.
ausschließlich 'zur Vorlage bei...' auszustellen, um eine anderweitige
mißbräuchliche Verwendung zu vermeiden.
- das Kind auch alleine zu befragen,
die acht Merkmale des Entfremdungssyndroms prüfen.
- zwecks Diagnostik auf
Einbeziehung des anderen Elternteils bestehen. Dies gehört zur Sorgfaltspflicht.
In einem Attest heisst es z.B.: ‚Die Einbeziehung des leiblichen Vaters
war aus ärztlicher Sicht nicht dringend notwendig, sofern er ein informelles
Arztgespräch wünscht, müsste er sich zunächst mit der erziehungsberechtigten
Mutter verständigen‘. Grundsätzlich ist ist aus psycho- und gruppendynamischer
Perspektive die Einbeziehung beider Elternteile zur Diagnostik
trennungsbedingter Stress-Symptome unerlässlich. Wenn dies nicht möglich ist,
sollte ein Attest grds. nicht ausgestellt werden, - es sei denn auf
familiengerichtliche Anforderung hin.
- nicht selbst erhobenene
Sachverhalte ('nach Angabe der Mutter/ des Vaters) sollten grds. nicht
bescheinigt werden.'
- Da der Arzt gerne gewechselt wird bis jemand sich
bereit findet, das Attest auszustellen oder da dem bisher Behandelnden auch der
andere Elternteil bekannt war, könnte mit dem vorbehandelnden Kollegen Kontakt
gesucht werden.
- vermerken, dass keine Kausalverknüpfung der Symptome mit
fehlerhaftem Verhalten des anderen Elternteils möglich ist (sofern dies im
Einzelfall nicht ausnahmsweise nachweisbar ist).
- Für die ‚nicht
erreichbaren’ Elternteile kann es sinnvoll sein, ein standardisiertes
Anschreiben parat zu haben, evtl. mit vorformulierten Fragen betr. der
jeweils vom betreuenden Elternteil vorgetragenen Problematik.
- Im
Zweifelsfall kann darauf verwiesen werden, seitens des Gerichtes ein
Sachverständigen-gutachten zu beantragen, welches den komplexen
Bedingungszusamenhängen kindlicher Gesundheitsstörungen bei Sorge- und
Umgangsstreitigkeiten detailliert nachgehen kann.
- In einem im Wartezimmer
ausliegenden Merkblatt für Eltern kann auf die zu erwartenden natürlichen
Trennungssymptome bei Kindern hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht werden,
dass Atteste nur nach Rücksprache mit dem aE ausgestellt weden.
Erst kürzlich ging der Fall
einer Hausärztin durch die Presse, welche eine Patientin auf Anraten einer
Ex-Ehefrau unwissentlich ‚ausgehorcht’ und ein ‚Privatgutachten’ erstellt hatte,
das bei Gericht zum Verlust des Sorgerechtes führte. Die neue Freundin des
Vaters war darin negativ beschrieben worden, es folgte eine Geldstrafe von 3000
DM und seitens des Berufsgerichtes Ärzte (Az BG-Ä 2/02) eine Buße von 5000 €
(Süddeutsche Zeitung Nr. 118 vom 24.05.2002, S. 34).
Wachsende ärztliche
Kompetenz auf diesem Sektor wird künftig dazu beitragen können, die negativen
Trennungsfolgen für die betroffenen Kinder zu mindern und ihnen den Kontakt zum
anderen Elternteil zu erhalten.
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Anschrift des
Autors:
Kopernikusstr. 55
40225 Düsseldorf